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Ohne programmierbaren Euro: Wirtschaftliche Bedeutung Europas gefährdet

18.06.2020Artikel
Tobias Tenner
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Dass die digitale Transformation die Welt, in der wir leben und arbeiten, von Grund auf verändern wird, gehört inzwischen zu den täglich zu hörenden Allgemeinplätzen. Die wenigsten unter uns werden jedoch eine Vorstellung haben, was dies konkret für sie bedeuten wird. Allenfalls gängige Klischees wie die menschenleeren, von Robotern beherrschten Fabrikhallen oder wie von Geisterhand bewegte autonom fahrende Pkws fallen vielen Menschen sofort ein.

Diese Art von Blick auf die Welt der Zukunft verstellt jedoch den Blick auf die eigentlichen Veränderungen. Beschrieben wird eine Fabrikhalle, wie wir sie heute kennen, mit Robotern anstatt mit Menschen. Sie vermittelt die Vorstellung, dass ansonsten alles beim Alten bliebe. Aber diese Roboter werden selbst Entscheidungen treffen, sie werden zum Beispiel selbstständig den Nachschub an Bauteilen organisieren oder selbstständig Ersatzteile bestellen, ihre eigene Wartung anfordern und auch autonom die Rechnung dafür begleichen. Sie werden in der Regel auch nicht mehr dem Unternehmen gehören, in dessen Fabrikhalle sie stehen. Das Unternehmen bezieht nur noch einen stetigen Strom von Dienstleistungen und rechnet diese automatisch und sekundengenau ab: Nicht nur für die Industriewelt lassen sich zahlreiche solcher Beispiele finden, auch Konsumenten werden die Möglichkeiten haben, ihre Musik- und Videostreams oder ihren Stromverbrauch schon unmittelbar bei der Nutzung und in kleinsten Einheiten zu bezahlen. Die Beispiele lassen sich beliebig erweitern. Automatisierte Produktions- und Dienstleistungsprozesse gehen mit automatisierten Bezahlvorgängen einher. 

Potenzial von DLT umfassend nutzen

Die technische Voraussetzung hierfür ist eine schnelle Internetanbindung über 5G und Prozesse auf Basis der Distributed Ledger Technologie (DLT). Schätzungen zufolge könnten im Jahr 2025 mehr als 20 Milliarden Geräte an das Internet angeschlossen sein. Wenn auch nur ein kleiner Teil davon Bezahlfunktionen ausführen soll, so werden dies noch immer Hunderte Millionen Geräte sein. Die potenziellen Produktivitätsgewinne sind beträchtlich, sie können aber nur dann vollständig erzielt werden, wenn die technologischen Voraussetzungen für automatische Bezahlvorgänge gegeben sind. Dazu muss Geld über eine neue Eigenschaft verfügen, es muss programmierbar sein. Voraussetzung hierfür wiederum ist die Anwendung der Distributed Ledger Technologie (DLT): Erst wenn auf DLT basierende realwirtschaftliche Prozesse auch auf der gleichen Technologie basierende Zahlungsverkehrslösungen integrieren können, wird das Potenzial dieser Technologie wirklich umfassend genutzt. Wer über diese Möglichkeit verfügt, gewinnt gegenüber seinen Konkurrenten im globalen Wettbewerb einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung. 

Die Uhr tickt 

Die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Europa verlangt daher zwingend, dass die digitale Transformation der Realwirtschaft von einer digitalen Transformation des Geldwesens begleitet wird. Aber die Welt wird nicht auf Deutschland oder die EU warten, wenn wir zögern. Aus der Perspektive eines einzelnen Unternehmens wird es unerheblich sein, wer den programmierbaren Euro zur Verfügung stellen wird. Wenn Libra in absehbarer Zeit einen programmierbaren Euro anbieten kann, die Banken und die EZB aber nicht, dann bleibt zur Sicherung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit keine andere Wahl, als auf Libra zurückzugreifen. 

Hält man sich vor Augen, mit welch hoher Geschwindigkeit sich digitale Innovationen global verbreiten, dann dürfte deutlich werden, dass der Bankensektor sehr schnell einen wichtigen Teil seiner Kundenkontakte verlieren würde. Gleichzeitig entstünde ein Geldkreislauf außerhalb des bewährten Bankensystems, der von den Notenbanken nur noch schwer zu kontrollieren wäre. Die Gefahr, dass die Geldpolitik und mit ihr die Wirtschaftspolitik insgesamt an Gestaltungsspielraum verliert, wäre nicht mehr von der Hand zu weisen. Die Bewahrung der wirtschaftspolitischen Souveränität verlangt deshalb, dass auch Europa in den Wettbewerb um programmierbare Geldformen eintritt. Zögern wäre fahrlässig. Die entscheidenden Weichenstellungen für den programmierbaren Euro müssen in Europa noch in diesem Jahr getroffen werden. 

Zunächst ist wichtig, dass alle Beteiligten aus Politik, Notenbanken, Finanzsektor und Wirtschaft verstehen, welche Bedeutung ein programmierbarer Euro hat und dass es einen großen Bedarf für ihn gibt. Die Moderation eines Wissensaustauschs auf höchster Ebene sollte deshalb bis zum Jahresende erfolgen. 

Zweistufiger Umsetzungsplan

Damit einher gehen muss ein zweistufiger Umsetzungsplan. In der ersten Stufe sollte die Bereitstellung des programmierbaren Euro in den Händen der Banken liegen. Dazu muss ein einheitlicher europäischer Standard, der den programmierbaren Euro auf Basis eines DLT-Tokens ermöglicht, innerhalb des nächsten Jahres entwickelt und umgesetzt werden. Ein solcher Prozess verlangt eine aktive politische Moderation. In der zweiten Stufe folgt dann die Ausgabe eines programmierbaren Euro als gesetzliches Zahlungsmittel, und damit zugänglich für alle Bürger, durch die EZB. Diese sollte einen Plan für die Ausgabe des programmierbaren Euro innerhalb der nächsten fünf Jahre beschreiben. 

Der Bankenverband hat mit seinem neuen Positionspapier herausgestellt, dass privaten Banken dem programmierbaren Euro eine hohe Bedeutung zumessen. Sie werden ihren Beitrag zur Gestaltung der Geldordnung in der digitalen Wirtschaft erbringen.