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Wirtschaftliche Erholung unter hoher Unsicherheit

03.09.2020Artikel
Dr. Hendrik Hartenstein
Dietmar Schwarz
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Kräftiges Wachstum im 3. Quartal erwartet…

Die massiven Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie haben dazu geführt, dass die gesamtwirtschaftliche Leistung in Deutschland von März bis Mai tief eingebrochen ist. Im gesamten ersten Halbjahr 2020 ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 11,5 Prozent gesunken und auf das tiefste Niveau seit Anfang 2011 zurückgefallen. 

Allerdings hat mit dem bereits im Mai begonnenen allmählichen „Wiederanfahren“ der wirtschaftlichen Aktivitäten die gesamtwirtschaftliche Leistung wieder einen Erholungskurs eingeschlagen. So konnten im Mai und Juni sowohl die Industrieproduktion also auch die Exporte im Vormonatsvergleich wieder deutlich zulegen. Auch der Einzelhandel hatte im Vormonatsvergleich merkliche Zuwächse zu verzeichnen. Stimmungsindikatoren weisen darauf hin, dass die Unternehmen die aktuelle Lage erheblich besser beurteilen: Nach einem bereits kräftigen Anstieg im Juni und Juli sind der Einkaufsmanagerindex sowie der ifo Geschäftsklimaindex im August erneut gestiegen. Insbesondere im Dienstleistungssektor hat sich das Geschäftsklima merklich verbessert. Auch die Erwartungen der Unternehmen fielen erneut optimistischer aus, was vor allem auf das Verarbeitende Gewerbe zutrifft. Zusammengenommen deutet dies darauf hin, dass das BIP im 3. Quartal 2020 gegenüber der vom Shutdown geprägten Vorperiode deutlich – um etwa 4 bis 6 Prozent – wachsen dürfte. 

… aber kein v-förmiger Verlauf

Ein belastbarer Hinweis auf einen v-förmigen Konjunkturverlauf im Zuge der Corona-Pandemie ist diese Entwicklung jedoch nicht. Die einsetzende Erholung ist zu fragil, da sich – unter anderem - die für die deutsche Wirtschaft bedeutenden Exportmärkte noch nicht von der Corona-Krise erholt haben. Zudem beruht ein erheblicher Teil der wirtschaftlichen Erholung im dritten Quartal auf einer Art „automatischer Rückpralleffekt“ nach der schrittweisen Aufhebung des Shutdowns. Dieser „Rückpralleffekt“ macht sich vor allem auf der gesamtwirtschaftlichen Angebots- und Produktionsseite bemerkbar. 

Für die tatsächliche konjunkturelle Dynamik ist hingegen vor allem die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrageseite wichtig. Und hier gibt es in vielen Wirtschaftssektoren eine nach wie vor überdurchschnittliche Zurückhaltung – und zwar sowohl beim privaten Konsum als auch bei den Unternehmensinvestitionen. Hinzu kommt, dass es in einigen Branchen, zum Beispiel bei Flügen sowie Urlaubs- und Freizeitaktivitäten, weiterhin Angebotseinschränkungen gibt. Angesichts der weltweit hohen Infektionsdynamik dürfte sich zudem die Nachfrage nach Exporten aus Deutschland nur schleppend erholen.

Nach einem starken „Rückpralleffekt“ im 3. Quartal dürfte das Erholungstempo in Deutschland bereits im Winterhalbjahr an Zugkraft verlieren. Erst recht, da die Infektionszahlen zuletzt auch in Deutschland wieder gestiegen sind und ein höheres Infektionsgeschehen auch ohne staatlich angeordnete Einschränkungen das Wirtschaftsleben dämpft.  

Längerfristige Folgen der Pandemie

Für eine nur verhaltene Fortsetzung der wirtschaftlichen Erholung in Deutschland sprechen ferner die verzögerten und längerfristigen Folgen der Pandemie. Zu den nachlaufenden Effekten gehört die durch die gestiegene Verschuldung recht angespannte Finanzlage in vielen Unternehmen. Bezüglich der längerfristigen Folgen muss beachtet werden, dass es im Zuge der Pandemie in zahlreichen Wirtschaftsbereichen zu dauerhaften Nachfrage- und Produktionsänderungen kommt, etwa bei beruflich bedingten Reisen, der Nutzung von Büroflächen oder der Länge und der regionalen Aufteilung von Lieferketten.

Wirtschaftspolitisch ist es deshalb wichtig, die sinnvollen und wirksamen staatlichen Nothilfen in zielgenaue Instrumente weiterzuentwickeln, die auf der einen Seite die pandemiebedingten Schäden lindern und auf der anderen Seite überkommene und unproduktive Strukturen nicht zementieren.

Mit Blick auf die Finanzlage der Unternehmen sollten Hilfsprogramme vorzugsweise in Richtung einer Eigenkapitalstärkung der Unternehmen ausgerichtet werden. Denkbar wäre zum Beispiel ein neues oder angepasstes Förderprogramm, das Unternehmen – insbesondere dem Mittelstand – Nachrangdarlehen zur Verfügung stellt. 

Gesamtjahr 2020: Tiefe Rezession

Unter der Annahme, dass auch bei wieder höheren Infektionszahlen in Deutschland staatlich verordnete Einschränkungen nicht flächendeckend, sondern lokal und gezielt erfolgen, wird sich die BIP-Erholung in den kommenden Quartalen grundsätzlich fortsetzen. Die vierteljährlichen Wachstumsraten dürften allerdings deutlich hinter der für das dritte Quartal 2020 erwarteten Zuwachsrate (4 bis 6 %) zurückbleiben.

Für den Jahresdurchschnitt 2020 wird von wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten sowie nationalen und internationalen Organisationen für Deutschland einhellig ein sehr kräftiger BIP-Rückgang prognostiziert. Wegen der hohen Unsicherheit liegen die Schätzungen der namhaften Institutionen derzeit in einer sehr breiten Spanne von -5 bis -9 %. Das einfache arithmetische Mittel dieser Prognosen liegt bei -6 ½ %.

Gemessen an diesem Mittelwert, wird das Jahr 2020 für Deutschland – das Gleiche gilt für die Weltwirtschaft insgesamt – das schwerste Rezessionsjahr seit dem zweiten Weltkrieg. Zur Erinnerung: Der bislang stärkste BIP-Einbruch in Deutschland war während der Finanzkrise im Jahr 2009 mit einem Minus von 5,7 %.

Ausblick 2021: 

Für das kommende Jahr sehen die meisten Prognosezahlen erheblich besser aus. Die Spanne bewegt sich derzeit zwischen +3 und +6 ½ %, mit einem arithmetischen Mittel von gut 4 ½ %. 

Zentrale Annahme in diesen Vorhersagen ist allerdings, dass sich das Infektionsgeschehen dauerhaft in einem kontrollierbaren Rahmen halten lässt. Zudem ist zu bedenken, dass die Wachstumsrate im Jahresdurchschnitt 2021 von einem vergleichsweise starken „statistischen Überhang“ aus dem Jahr 2020 profitieren wird. 

Die Produktionslücke, also der Vergleich zwischen der tatsächlichen BIP-Entwicklung und dem Potenzialwachstum, wird sich auch bei den hohen Wachstumsprognosen im kommenden Jahr noch nicht schließen. Selbst Wachstumsraten von 5 oder 6 % im Jahr 2021 können daher nicht als Wirtschaftsboom bezeichnet werden.

Herausforderungen der Wirtschaft in Europa

Auch in der Europäischen Union (EU) und in der Eurozone ist die konjunkturelle Entwicklung von den COVID19-Eindämmungsmaßnahmen geprägt. Die gesamtwirtschaftliche Leistung der EU hat im ersten Halbjahr 2020 den stärksten Rückgang seit jeher zu verzeichnen. 

Um die Herausforderungen der Corona-Krise auch in der EU zu bewältigen, verständigte sich der Europäische Rat im Juli 2020 auf Basis eines Vorschlags der Europäischen Kommission auf ein Aufbauinstrument „Next Generation EU“ in Höhe von 750 Mrd. Euro und dessen Finanzierung über Anleihen. 

Zweck des Aufbauinstruments der EU ist es, eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, der Beschäftigung und des sozialen Zusammenhalts zu verhindern und eine nachhaltige und widerstandsfähige Erholung der Wirtschaftstätigkeit zu fördern. Es sollen 390 Mrd. Euro als nicht rückzahlbare Zuwendungen und 360 Mrd. Euro als Kredite an EU-Mitgliedsländer fließen. Die ausstehende rechtliche Ausgestaltung und der Rahmen, innerhalb derer die Kredite und Zuwendungen ausgegeben werden dürfen, sollten hier die notwendige Stärkung der Eigenkapitalstrukturen der Unternehmen in Europa eng im Blick behalten.