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EU-Schuldenregeln weiterhin ausgesetzt

07.07.2022Artikel
Julia Topar
Dr. Henrik Meyer
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Der Vorstoß kam nicht überraschend: Ende Mai hat die EU-Kommission vorgeschlagen, den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt auch im Jahr 2023 ausgesetzt zu lassen. Schon für die Jahre 2020 bis 2022 wurden die Regeln für solide Haushaltsführung nicht angewandt, damit die EU-Regierungen in der Corona-Krise Unternehmen und Bürger besser unterstützen können. Anfang 2023 hätte der Pakt wieder aktiviert werden sollen, doch der Ukrainekrieg und die nachlassende Konjunktur in Europa machen es nun nach Ansicht der Kommission erforderlich, seine Wiederanwendung auf 2024 zu verschieben.

Was regelt der Stabilitätspakt?

Was genau regelt der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt überhaupt? Der 1997 eingeführte Pakt soll Schuldenkrisen verhindern. Dafür setzt er eine Obergrenze für das jährliche Haushaltsdefizit (3 Prozent der Wirtschaftsleistung) sowie eine Zielmarke für die Gesamtverschuldung des Staates (60 Prozent der Wirtschaftsleistung) – die sogenannten Maastricht-Kriterien. Bei Verstößen leitet die Kommission Verfahren ein; es drohen sogar Geldbußen, wobei die Behörde bislang nie Strafen verhängt hat, obwohl es immer wieder Verstöße gegeben hat. Während der Pandemie sind die Schuldenberge der Regierungen nun noch einmal kräftig gewachsen. Nach Prognosen der Kommission werden 2023 elf der 19 Euro-Länder die 60-Prozent-Grenze überschreiten, sieben Staaten werden über der Drei-Prozent-Marke liegen. Da der Pakt nun aber für ein weiteres Jahr ausgesetzt werden soll, wird die Kommission daran keinen Anstoß nehmen. 

Die Gründe der Kommission

Konkret begründet die Kommission ihren Schritt damit, dass der Ukraine-Krieg, die hohen Energiepreise und die Lieferkettenprobleme die Wirtschaft erheblich belasteten und zu mehr Unsicherheit führten. Daher bräuchten die Finanzminister auch 2023 die Flexibilität, rasch reagieren zu können. Zudem seien hohe Investitionen nötig, um schnell unabhängig von russischer Energie zu werden. Dem Frühjahrsgutachten der Kommission zufolge wird die Wirtschaft der Euro-Länder in diesem Jahr zwar um 2,7 Prozent wachsen, noch im Februar hatte die Behörde aber mit vier Prozent gerechnet. Zugleich warnte die Kommission davor, dass die Frühjahrsprognose mit „extremer Unsicherheit“ und „hohen Abwärtsrisiken“ behaftet sei. Eine Eskalation des Krieges, ein plötzlicher Stopp der Energielieferungen oder ein weiteres Nachlassen wirtschaftlicher Aktivität in den USA und China könnten zu viel düstereren Aussichten führen.

Kritische Stimmen

Dem Vorschlag müssen die Mitgliedstaaten noch zustimmen, doch das dürfte trotz mancher Kritik kein Hindernis sein. Auch die Bundesregierung will ihn mittragen, Deutschland werde von dem Aussetzen der Verschuldungsregeln aber keinen Gebrauch machen, so Bundesfinanzminister Lindner. Innerhalb und vor allem außerhalb der Kommission ist dieser Schritt durchaus umstritten. Denn immerhin sieht die gegenwärtige Konjunkturprognose für die Euro-Zone ein wirtschaftliches Wachstum um mehr als zwei Prozent vor, trotz des Krieges. Zum Vergleich: Im Jahr 2020, als die Kommission den Pakt aussetzte, schrumpfte die Wirtschaftsleistung in den 19 Staaten um mehr als sechs Prozent. Auch das Argument mit den hohen Investitionen, die für die grüne Transformation und die Energiewende notwendig werden, wird von Beobachtern kritisch gesehen, da dieser Investitionsbedarf auch über das Jahr 2023 hinaus groß sein werde. 

Die Kommission betont, der Aufschub sei kein Freibrief zum Schuldenmachen: Sie rät den Regierungen, einerseits mehr in Energiesicherheit, Klimaschutz und Digitalisierung zu investieren, andererseits das Wachstum der laufenden Ausgaben zu deckeln. Zudem sollten hoch verschuldete Länder anstreben, ihre Verbindlichkeiten mittelfristig zu senken. 

Reform des Paktes: Vorschläge nach dem Sommer

Bis Sommer wollte die Kommission auch Vorschläge für eine langfristige Reform des Stabilitätspakts präsentieren, nun will die Behörde ihr Konzept jedoch erst nach der Sommerpause vorstellen. Die Euro-Länder sind sich zwar weitgehend einig darüber, dass der Stabilitätspakt reformiert werden muss. Die Vorstellungen, was dafür konkret erforderlich ist, gehen allerdings weit auseinander. Südeuropäische Länder wie Italien dringen auf flexiblere Sparziele. In Griechenland und Italien liegt die Schuldenquote bei fast 200 beziehungsweise 150 Prozent – die vertragliche Obergrenze von 60 Prozent ist mittelfristig kaum erreichbar.

Weitgehende Einigkeit besteht zumindest darüber, dass die Regeln radikal vereinfacht werden müssen und die Anpassungspfade bei einer zu hohen Verschuldung neu austariert werden sollten. Und viel Zustimmung hat es auch schon für eine Anhebung der 60-%-Verschuldungsgrenze und die Einführung einer – wie auch immer ausgestalteten – Investitionsförderung gegeben.