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Konferenz zur Zukunft Europas: Geist der Bürgerbeteiligung spürbar

22.12.2021Artikel
Stephanie Hartung
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Seit Jahren befindet sich die Europäische Union in einer ernstzunehmenden Vertrauenskrise. Nicht nur EU-Gegner erleben die europäischen Institutionen nach wie vor als abgehoben und bürgerfern. Auch wenn der notwendige Fortbestand der Europäischen Union ungeachtet des BREXIT von der klaren Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger nicht wirklich angezweifelt wird, stellt sich die Frage, wie diesem grundsätzlichen Vertrauensverlust in die Brüsseler Politik dauerhaft begegnet werden kann. Große Hoffnungen ruhen gegenwärtig auf der Konferenz zur Zukunft Europas („Zukunftskonferenz“), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die europäische Bürgerbeteiligung nachhaltig zu stärken. Als Mitglied im Konferenz-Plenum sehe ich in dieser Hinsicht einen noch steinigen Weg vor uns. Doch es lohnt sich, ihn gemeinsam zu beschreiten, damit diese Aufgabe gelingen kann.

Wenn da nicht das Marketingproblem wäre

Mal ehrlich: Haben Sie von der Zukunftskonferenz schon einmal gehört? Und ist Ihnen bewusst, dass auch Sie ganz persönlich eingeladen sind, daran mitzuwirken und so den Fahrplan für das künftige Europa aktiv mitzugestalten? Falls nicht, dann geht es Ihnen so, wie den allermeisten der knapp 450 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger, an denen dieses außergewöhnliche Brüsseler Projekt derzeit schlicht vorbeigeht. 

Das verwundert auch nicht; denn die Zukunftskonferenz hat ein enormes Marketingproblem. In kaum einem EU-Mitgliedsstaat wird in den Massenmedien nennenswert darüber berichtet. Und bislang gelingt es weder der Politik noch der organisierten Zivilgesellschaft, die Aufmerksamkeit größerer Teile der Bevölkerung auf die Möglichkeiten zur konkreten Teilhabe an der Zukunftskonferenz zu lenken. 

Dabei gibt es tatsächlich diverse Formate, die es letztlich allen EU-Bürgerinnen und Bürgern gestatten, ihre Meinung zu den Themen im Rahmen der Zukunftskonferenz zu platzieren und damit von den zentralen EU-Institutionen gehört zu werden.

Beeindruckendes, nie dagewesenes Experiment 

Was also hat es mit der Zukunftskonferenz konkret auf sich? Laut der ihr zugrundeliegenden Geschäftsordnung handelt es sich um einen nach dem Bottom-up-Ansatz an die Bürgerinnen und Bürger direkt gerichteten Prozess, der ihnen ermöglichen soll, ihre Erwartungen an die Europäische Union vorzutragen. Dabei sollen Europäerinnen und Europäer aus allen Gesellschaftsschichten und aus allen Regionen der Union daran teilnehmen können. Insbesondere auch der jungen Generation wird eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Zukunft des europäischen Projekts zugeschrieben. 

Aus meiner Sicht handelt es sich bei der Zukunftskonferenz um das beeindruckendste Experiment, das die Brüsseler Politik je zugelassen hat, um Bürgerteilhabe an EU-politischen Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. 800 per Losverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger kommen über mehrere Monate hinweg in sog. Europäischen Bürgerforen zusammen und diskutieren zu insgesamt neun Themen, darunter Klimawandel, Gesundheit, Migration und Demokratie. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden dann in dem aus ca. 450 Mitgliedern bestehenden Konferenz-Plenum debattiert. Dieses setzt sich nicht nur aus Vertreterinnen und Vertretern des Europäischen Parlaments, der EU-Kommission und der 27 nationalen Regierungen und Parlamente zusammen, sondern auch aus 80 Abgesandten der 800 ausgewählten Bürgerrepräsentanten und zusätzlich jeweils einem so genannten Nationalen Bürgervertreter aus jedem EU-Mitgliedsstaat. Ich selbst nehme in der letztgenannten Funktion als Nationale Bürgervertreterin Deutschland am Konferenz-Plenum teil. 

Über den gesamten Projektzeitraum hinweg wird die Zukunftskonferenz zudem von einer Digital-Plattform begleitet und ergänzt. Sie ermöglicht den Nutzern, eigene Projekte und Veranstaltungen zur Zukunftskonferenz mit sämtlichen interessierten Bürgerinnen und Bürgern in der EU zu teilen und so weitere Anregungen in den Diskussionsprozess der Zukunftskonferenz einfließen zu lassen.

Der Geist der europäischen Bürgerbeteiligung ist aus seiner Flasche

Nach gut einem halben Jahr – einschließlich diverser Treffen der Europäischen Bürgerforen und zweier Sitzungen des Konferenz-Plenums – nimmt die Zukunftskonferenz jetzt langsam (für viele zu langsam!), aber dennoch stetig Fahrt auf. Dabei hat sie es unversehens und durchaus prominent sogar in den Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Regierung geschafft. Letztere will die Zukunftskonferenz ausdrücklich für Reformen nutzen und gegebenenfalls notwendigen Änderungen des EU-Vertrages zustimmen So soll die Zukunftskonferenz nach den Vorstellungen der Koalitionäre idealerweise in einen verfassungsgebenden Konvent münden und so zur Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen. Falls ein solches Vorhaben mittels der Zukunftskonferenz auf den Weg gebracht würde, wäre das in der Tat eine gewaltige Veränderung des Status Quo der EU. 

Doch kann es die Zukunftskonferenz in ihrer aktuellen Verfasstheit tatsächlich schaffen, solch tiefgreifende Reformen zu bewirken? Daran mag man zweifeln, wenn man sich die Geburtswehen betrachtet, mit denen das Projekt noch immer zu kämpfen hat. So müssen etwa die „bürgerlichen“ Mitglieder im Konferenz-Plenum, die dort bezüglich etwaiger Reformen immerhin eine unmittelbar beratende Funktion haben (sollen), erst einmal im europäischen Politik-Zirkus ankommen. Heißt: Sie müssen die Spielregeln erlernen, unter denen etwa im EU-Parlament debattiert wird und Allianzen geschmiedet werden, um Mehrheiten zu bilden. 

Und auch die politischen Akteure, die den „einfachen“ EU-Bürgerinnen und Bürgern im Konferenz-Plenum zahlenmäßig deutlich überlegen sind, müssen sich noch in ein neues Rollenverständnis einfinden und eine größere Bereitschaft zeigen, auf Augenhöhe und ergebnisoffen den Dialog mit eben jenen Bürgervertretern zu führen – und das über die Grenzen der 27 EU-Mitgliedsstaaten hinweg. 

Für all das  wird es deutlich mehr Zeit als bis zum Frühjahr 2022 brauchen, wenn die Zukunftskonferenz nach dem gegenwärtigen Zeitplan eigentlich schon beendet sein soll. Und so herrscht sowohl in der organisierten Zivilgesellschaft als auch innerhalb des EU-Parlamentes und der EU-Kommission jetzt schon Einigkeit darüber, dass die Zukunftskonferenz verlängert werden sollte. Zumindest will man ihr wohl den Zeitraum von zwei Jahren geben, für den sie ursprünglich angelegt war, bevor die Corona-Pandemie dazu führte, dass die Zukunftskonferenz am 9. Mai dieses Jahres mit einem Jahr Verspätung an den Start ging.

Auch ich persönlich begrüße eine Verlängerung der Zukunftskonferenz und gegebenenfalls die Überführung in einen verfassungsgebenden Konvent sehr. Wenngleich sich die Zukunftskonferenz derzeit noch deutlich unter dem Radar einer breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung und insbesondere Teilnahme bewegt, wäre ihr Scheitern in jedem Fall ein empfindlicher Rückschlag für die europäische Demokratie. Gerade erst hat Brüssel die Pforten für mehr Partizipation der europäischen Bürgerinnen und Bürger aufgestoßen. Mit dem Erfolg, dass sich ein erfrischender Geist der Bürgerbeteiligung exakt dort breit macht, wo der Politik seit Jahrzehnten mangelnde Bürgernähe vorgeworfen wurde. Diesen Geist gilt es jetzt gemeinsam zu festigen und zu verbreiten. Dann kann das Experiment „Zukunftskonferenz“ allen Zweifeln und Stolperfallen zum Trotz wegweisend für eine reformierte und demokratisch gestärkte Europäische Union werden.