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Konferenz zur Zukunft Europas: Machen wir sie trotz allem zum Erfolg!

17.12.2021Artikel
Dr. Christian Johann
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Stell dir vor, es ist Bürgerbeteiligung und niemand geht hin. Im Windschatten von Pandemie, Fußball-Europameisterschaft, Bundestagswahl und Regierungsbildung findet seit nun sechs Monaten die Konferenz zur Zukunft Europas statt. Haben Sie davon gewusst? Haben Sie sich vielleicht sogar daran beteiligt? Dann gehören Sie zu den gut 35.000 Menschen, die sich bislang auf der eigens für die „Conference on the Future of Europe“ programmierten Onlineplattform engagiert und mit Ideen eingebracht haben. Das sind ungefähr so viele Menschen wie Berlin Teilnehmende bei seinem jährlichen Marathon zählt. Das entspricht der Einwohnerzahl von Meppen. Oder: Das sind 0,008 Prozent der 445 Millionen Menschen, die in der Europäischen Union leben. 

In Bürgerforen und mit ihrer Plattform soll die Zukunftskonferenz im Auftrag von Europäischem Parlament, Europäischer Kommission und Europäischem Rat bis zum Frühjahr 2022 Ergebnisse produzieren: Wie soll die EU den Herausforderungen und Chancen wie Klimawandel und Digitalisierung, wie demographischem Wandel und ökonomischer Transformation begegnen? Sollten sich da nicht noch mehr von uns beteiligen?

Die Zukunftskonferenz hat Probleme. Aber sie bietet uns auch die Chance, über die Zukunft der für uns alle in Europa wesentlichen politischen Struktur zu diskutieren: die EU. Warum tun wir es nicht? Warum sollten wir?

Die Probleme

Sollten Sie bislang von der Zukunftskonferenz noch nichts gehört haben, ist das nicht allein Ihre Schuld. Die Beteiligungsmöglichkeit, die begleitenden Veranstaltungen und Plattformen werden wenig wahrgenommen. Wie auch? In den Nachrichtenhäusern beherrschen andere Themen die Agenda. Wenn in der Redaktionssitzung die Idee aufkommt, über die „Konferenz zur Zukunft Europas“ zu berichten, stehen gleich drei sperrige Substantive im Weg. Konferenz? Anzugträger. Zukunft? Beliebig. Europa? Abstrakt!

So wie Europa die positiven Geschichten fehlen, fehlt auch der Zukunftskonferenz ein entscheidendes Element: die Story. Was ist ihr Ziel? Wer gegen wen? Warum jetzt? Was sind überhaupt Fragen, die wir weit weg von Parlamenten und Ministerien diskutieren können? Auch in den bisherigen Bürgerforen wurde bisher zu wenig über konkrete Ergebnisse gesprochen.

Den Verantwortlichen der Zukunftskonferenz sind diese Probleme bekannt. Sie rühren auch vom komplexen Miteinander von Europäischem Parlament, Kommission und Rat. Lange wurde gestritten, wer die Konferenz leitet. Lange war unklar, wie der Zeitplan aussehen könne und was die Menschen als Resultat erwarten könnten. Lange schon dauert Corona an. Wegen vieler Kompromisse, wegen eines dürftigen Erwartungsmanagements sowie eines unklaren Zeitplans fällt das Zwischenfazit unbefriedigend aus. Nicht wenige Staaten und proeuropäisch eingestellte Bürgerinnen und Bürger fürchten, dass mögliche Änderungen der Europäischen Verträge zu neuen Abstimmungen über EU-Austritte führen könnten. Dabei bietet die Zukunftskonferenz noch immer große Chancen.

Die Chancen 

Auf der Weltkarte ist EU-Europa klein. In seinen Städten ist es divers. Wo es im Diskurs zusammenkommt oder nach außen repräsentiert werden soll, ist es oft unterschiedlicher Meinung. Aus der Verschiedenheit der europäischen Regionen, aus den Unterschieden zwischen Stadt und Land, zwischen Zentren der Hochtechnologie und denen der Kultur können wir Europäerinnen und Europäer schöpfen. Wo sonst gibt es diese Gegensätze in einem politischen Gebilde mit 27 unterschiedlichen Nationen? Wie fit wir doch wären, wenn wir nur die Lösungen anderer europäischer Kommunen in die eigenen übertragen könnten. Wie viele Experimente könnten wir uns schenken, wenn wir im Nachbarland schauen würden, was funktioniert und was nicht? Diese Chance hatten wir auch ohne Zukunftskonferenz. Mit ihr ist sie aber gewachsen. Wir haben nun eine zentrale Achse, um die herum wir alle uns versammeln könnten. Die Zukunftskonferenz kann in ihrer zweiten Hälfte Fahrt aufnehmen. Dies wird nicht von allein geschehen. Sie braucht Hilfe.

In den Parlamenten Europas – von der Assemblée nationale, über die Assembleia da República, über die Landtage in Schwerin und München bis zum Gemeinderat – arbeiten eine Million gewählte Politikerinnen und Politiker an einer besseren Zukunft für Europa. Auch wenn sie es nicht immer so betiteln. In unseren repräsentativen Demokratien tragen alle gewählten Vertreterinnen und Vertreter die Verantwortung dafür, dass möglichst alle Stimmen gehört werden. Und diese Stimmen klingen oft gleich. Wer sich durch die Plattform klickt und bei den Bürgern umhört, stößt auf die gleichen Fragen: Warum lässt sich die EU an der Nase herumführen in Fragen der Rechtstaatlichkeit? Warum kann ein Staatenbund mit einer halben Milliarde Menschen nicht ein paar Tausend Geflüchtete aufnehmen, die an seinen Grenzen erfrieren, ertrinken und „weggedrückt“ werden? Warum entscheidet nicht die Mehrheit? Wenn wir diese Fragen gemeinsam stellen und diskutieren, können wir Antworten finden.

Die „Learnings“

Die Europäische Union muss ihre positiven Erzählungen in den Vordergrund bringen. Sie muss ihre Legitimationsprobleme lösen und Mehrheiten finden, die dann auch entscheiden dürfen. Das kann uns nur gelingen, wenn wir Europa vor Ort erlebbar machen, es erklären und bewerben. Davon sind wir hier in der Europäischen Akademie Berlin (EAB) seit unserer Gründung 1963 überzeugt. Wir sprechen bewusst auch in den Berliner Kiezen über Europa. Dort lassen wir uns Europa von eigens eingeladenen Fachleuten der unterschiedlichsten Bereiche erklären. Dort befragen wir sie und diskutieren mit ihnen. Dort möchten wir andere in die Lage versetzen, Europa mitzugestalten. Die Zukunftskonferenz bietet uns aktuell die Gelegenheit die politische Bildung zum Thema Europa zu stärken. 

Denn die ist notwendig, um Europa in der Breite zu vermitteln. Es läuft schon viel: Allein in der EAB finden pro Jahr mehr als 170 Veranstaltungen statt, werden mehr als 50 Projekte in eigener Trägerschaft durchgeführt. Von Diskussionsforen, Bildungsseminaren und Projekten der politischen Bildung bis hin zu Lehrkräftefortbildungen und Crashkursen zu den Themen „Podcast und Social Media in der Kommunalpolitik“ ist alles dabei, was ein anerkannter Träger der politischen Bildung anbieten kann. 

Und wir sind mit diesem Ansatz nicht allein. In Berlin, Deutschland und Europa schöpfen Bildungsträger, Vereine, Initiativen und NGOs Kraft aus der Zukunftskonferenz und bringen ihre Vorhaben in Einklang. Unsere Stärke und unser Auftrag werden künftig noch mehr darin bestehen, die Anliegen und Wünsche einer heterogener werdenden Bevölkerung ernst zu nehmen, sie zu bündeln und vernehmbar zu machen. 

Was kann noch helfen, europäische Bürgernähe und Bürgerbeteiligung zu fördern? Die regionalen Parlamente müssen stärker integriert werden. Dazu gehört auch die Bewerbung der Zukunftskonferenz und die engere Zusammenarbeit in Organisationen wie dem Ausschuss der Regionen. Regionale Parlamente bergen die Legitimation, die dem institutionellen Europa noch fehlt. Hier werden alltägliche Sorgen der Bürgerinnen und Bürger besprochen. Hier sehe ich bekannte Gesichter von Menschen, die in meiner Region zuhause sind, die meine Situation kennen und meine Wünsche am ehesten verstehen.

So wie die Demokratie von Bedingungen abhängt, die sie nicht selbst herstellen kann, braucht auch Europa mehr als nur politische Direktiven aus Brüssel. Europa braucht Europäerinnen und Europäer, die im Alltag Europa auch dort erkennen, wo es nicht unbedingt draufsteht. Wie das gelingen kann, hierfür hält die Zukunftskonferenz für uns schon heute einige Lehren bereit. Sie kann trotz aller Schwierigkeiten und Menetekel noch eine Erfolgsgeschichte werden – so wie die Europäische Union selbst!