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Mit mehr Teilhabe in die Zukunft Europas

26.01.2022Artikel
Dr. Linn Selle
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Derzeit scheinen viele Debatten in der Europäischen Union festgefahren. Am deutlichsten wird das an der europäischen Migrations- und Asylpolitik, die diesem Namen zurzeit nicht gerecht wird. Auch hat die Covid-19-Pandemie gezeigt: Krisenreflexe sind vor allem national, nicht europäisch, während das Werteverständnis von Mitgliedsländern der EU mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit auseinander zu klaffen scheint. Die EU kann jedoch mehr. Ihre Stärke liegt darin, europäische Lösungen zu finden, die als Kompromisse aus unterschiedlichen Sichtweisen weitaus besser sind als rein nationale Strategien. Die Konferenz zur Zukunft der EU kann in diesem Prozess viel beitragen und ist ein wichtiger Schritt, um die europäischen Bürgerinnen und Bürger stärker in politische Entscheidungen einzubeziehen.

Zukunftskonferenz zum richtigen Zeitpunkt

Rund 20 Jahre nach dem Europäischen Konvent und knapp 15 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon braucht die EU eine schonungslose Bestandsanalyse und, als zweiten Schritt, einen neuen Aufbruch, um den derzeitigen Herausforderungen gerecht zu werden. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte neuen Schwung für die Demokratie versprochen. Dieses Versprechen kann eingelöst werden, wenn die Gesellschaft in ihrer Breite stärker in die Politik einbezogen wird. Eine öffentlichkeitswirksame, breite Debatte über die Zukunft der EU bietet die Chance, tragfähige Lösungen zu finden. So kann Europa zukunfts- und wertefest, vor allem aber auch demokratischer werden. Neben den Bürgerinnen und Bürgern sollten dabei auch gesellschaftliche Organisationen in die Diskussion einbezogen werden.

Bewertung der Zukunftskonferenz aus Sicht der EBD

Wenige Monate vor dem möglichen Ende der Konferenz kann bereits eine erste Bilanz gezogen werden. Vorab: Es bleibt noch viel zu tun, wenn die Konferenz nicht als folgenloser Bürgerdialog zu Enttäuschungen führen soll. Zu den positiven Aspekten gehört sicher, dass wichtige repräsentative Institutionen wie der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) und gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure wie die EBD-Mitgliedsverbände und die Europäische Bewegung International (EMI) in die Konferenz eingebunden sind. Sie fungieren als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Ebenfalls als gut zu bewerten ist, dass sich die Europäischen Bürgerforen repräsentativ zusammensetzen und auf diese Weise zahlreiche Gruppierungen, Minderheiten und auch kritische Stimmen Gehör finden. Zu bemängeln ist allerdings die in dieser Hinsicht uneinheitliche Durchführung der nationalen Bürgerforen. Möglichst repräsentativ besetzte Bürgerforen sind der Schlüssel zum Erfolg, wenn die Konferenz keine schlichte Zuhör-Übung bleiben soll. 

Neben einer Bestandsaufnahme zum Zustand der EU muss die Zukunftskonferenz noch mehr leisten: Die Diskussionen sollten ergebnisoffen geführt werden und gegebenenfalls auch Reformen initiieren. Die bisherige Unverbindlichkeit, was aus den Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger wird, hemmt das Engagement der gesellschaftlichen Kräfte. So haben Umfragen unter EBD-Mitgliedsorganisationen gezeigt, dass ihnen die Werbung für Teilhabe durch diesen Umstand erschwert wird. Die EBD fordert daher eine Selbstverpflichtung der EU-Institutionen, dem Dialog auch gesetzgeberische Taten folgen zu lassen; wenn nötig, dürfen auch Vertragsänderungen kein Tabu sein. 

Erfreulich ist, dass der Koalitionsvertrag und damit die programmatische Basis der neuen Bundesregierung zur Zukunftskonferenz klar Stellung bezieht: Sie soll in einen verfassungsgebenden Konvent münden! Wir unterstützen diesen Mut für die Zukunft. Die Regierung sollte die Zukunftskonferenz als Chance für die Erneuerung der EU und progressive Europapolitik nutzen. 

Unverständlich bleibt, dass die Konferenz nach nur einjähriger Debatte im Mai 2022 abgeschlossen werden soll. Als Impulsgeber der Konferenz hatte Frankreich unter Präsident Macron einst das klare Ziel verfolgt, die Debatte über zwei Jahre hinweg zu organisieren. Nachdem die Konferenz erst mit großer Verspätung startete, sollte nun der Ermessensspielraum der Gemeinsamen Erklärung genutzt und der Konferenzprozess mindestens bis einschließlich 2023 verlängert werden. Somit würden die Konferenzergebnisse zur Themengrundlage für die Europawahl 2024, bei der alle Wählerinnen und Wähler über die Zukunft Europas demokratisch abstimmen. Hier ist besonders politische Führung unter der laufenden französischen Ratspräsidentschaft gefordert.

Ideen und Vorschläge der EU-Bürgerinnen und Bürger

Das Europäische Bürgerforum zum Thema „Demokratie, Werte, Rechtsstaat, Sicherheit” hatte im Dezember seine letzte Sitzung. Die rund 200 Teilnehmenden stimmten über insgesamt 42 Empfehlungen ab, die in den drei seit September abgehaltenen Sitzungen erarbeitet wurden. Jeder Vorschlag musste von mindestens 70 Prozent der Teilnehmenden unterstützt werden, um angenommen zu werden. 

Die Vorschläge zeigen, wie vielfältig die Vorstellungen und Visionen mit Blick auf die EU sind; Schwerpunkte sind unter anderem der Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie eine stärkere Bürgerbeteiligung. Sie reichen von grundlegenden Forderungen, wie die nach einer europäischen Verfassung und der Harmonisierung des EU-Wahlrechts durch transnationale Listen, bis hin zu konkreten Gesetzesvorschlägen. Es wird deutlich: Der Wunsch und Wille der Bürgerinnen und Bürger, mehr in EU-Politik einbezogen zu werden, ist da! Das bezeugen zahlreiche Forderungen, die darauf abzielen, Parlamentarismus, pluralistische Demokratie und Transparenz in Europa zu stärken. 

Die repräsentativen Akteurinnen und Akteure im Plenum sind nun in der Pflicht, die Eingaben an die Konferenz aufzunehmen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und weiterzudenken. Zusammen mit den Ergebnissen der anderen Bürgerforen zu den Themen Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Beschäftigung/Bildung, Kultur, Jugend und Sport, digitaler Wandel, Klimawandel, Umwelt/Gesundheit und EU in der Welt/Migration werden die Ergebnisse der Konferenz am Ende in einem Bericht an die Präsidenten des Parlaments, des Rates und der Europäischen Kommission zusammengefasst, die sich verpflichtet haben, die Empfehlungen weiterzuverfolgen.

Sollte die Zukunftskonferenz nicht verlängert werden, wäre die große Chance verpasst, Europa demokratischer und bürgernäher zu machen. Daher fordert die EBD einen realistischen Zeitplan und eine Konferenzdauer von mindestens zwei Jahren, die genug Raum für Debatten und Teilhabe lässt. Die Konferenz darf kein folgenloses Experiment bleiben, sondern muss konkrete Ergebnisse liefern. Dabei dürfen Vertragsänderungen, die dem Willen der Bürgerinnen und Bürger entsprechen, kein Tabu sein.

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Christian Jung

Director

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