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Krieg in der Ukraine: Wirtschaft bricht ein

31.05.2022Artikel
Julia Topar
Dr. Henrik Meyer
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Der russische Angriffskrieg ist in vielerlei Hinsicht eine Katastrophe für die Menschen in der Ukraine – auch mit Blick auf die Wirtschaft und die Infrastruktur. Städte wie Mariupol, Charkiw und andere sind nahezu vollständig oder teilweise verwüstet; in vielen weiteren Orten wurden Wohnhäuser, Schulen, Kliniken, Industrieanlagen, Strom- und Wasserleitungen zerstört. Die Weltbank hat die Schäden an Gebäuden und Infrastruktur nach zwei Monaten Krieg (Ende April) auf bereits 60 Milliarden Dollar geschätzt. Laut Infrastrukturminister Alexander Kubrakow sind 20 bis 30 Prozent der Straßen und Schienenwege beschädigt oder zerstört, 300 Brücken, 8.000 Kilometer Staatsstraßen, Dutzende Autobahnbrücken. Die Straßenbehörde Ukravtodor beziffert die Schäden auf umgerechnet 30 Milliarden Dollar. 500 Kilometer Straßen seien aber wieder geräumt und befahrbar. 

Wirtschaftsforscher prognostizieren vor diesem Hintergrund einen schweren Einbruch der ukrainischen Wirtschaftsleistung für dieses Jahr. Die Schätzungen liegen zwischen minus 35 Prozent gegenüber den 200 Milliarden Dollar Bruttoinlandsprodukt des Vorjahres (Internationaler Währungsfonds) und minus 45 Prozent (Frühjahrsprojektion der Weltbank). Der weitere Kriegsverlauf ist natürlich entscheidend dafür, wie groß die Schäden tatsächlich ausfallen werden.

Widerstandsfähige Wirtschaft

Dennoch ist das Bild nicht einheitlich düster: In den Regionen, in denen nicht gekämpft werde, sei die Wirtschaft erstaunlich widerstandsfähig, so das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Der Einzelhandel sichert die Lebensmittelversorgung, das Telefonnetz funktioniert, Geldautomaten geben Banknoten aus. Die Unternehmen überwänden allmählich die kriegsbedingten Erschwernisse, schreibt die ukrainische Notenbank. Nachdem in den ersten Kriegswochen 30 Prozent der Betriebe geschlossen waren, seien es Mitte April nur noch 23 Prozent gewesen. Allein 400 Betriebe seien mit Regierungshilfe vom Osten der Ukraine in den Westen verlagert worden, die Hälfte von ihnen arbeite wieder, heißt es in Kiew. Nach einer Befragung der European Business Association in der Ukraine unter kleinen und mittleren Betrieben ist die Zahl geschlossener Unternehmen gegenüber dem ersten Kriegsmonat von 42 auf 26 Prozent gesunken; 20 statt 13 Prozent der Betriebe gaben an, voll zu arbeiten. 

Problem: Die vom Krieg verwüsteten Regionen, in denen die Wirtschaft zum Erliegen gekommen ist, sind die ökonomischen Kraftzentren der Ukraine; hier seien bisher 53 Prozent der Wirtschaftsleistung, 43 Prozent der Industriegüter und ein Drittel der Agrarproduktion erzeugt worden, so das WIIW. Hinzu kommt: Über die nun geschlossenen Häfen am Schwarzen Meer wurde früher die Hälfte des Exports abgewickelt. Alternativen hierfür zu finden, fällt zusehends schwer, weil die russischen Streitkräfte gezielt die Verkehrs- und Bahninfrastruktur unter Beschuss nehmen. Die ist auch für den Waffentransport an die Front wichtig.

Exportland für Agrarprodukte

Immerhin: Der Krieg beschleunigt die Integration der Ukraine in die europäische Wirtschaft. Der Anschluss an das Stromnetz wurde im März vollzogen. Die Regierung in Kiew hofft, überschüssige Elektrizität exportieren zu können. Eine engere Kooperation mit Europas Bahnen soll den wichtigen Export von Getreide und anderen Agrargütern ermöglichen. Normalerweise exportiert die Ukraine bis zu fünf Millionen Tonnen Getreide im Monat, aktuell sind es nur 200.000 Tonnen. Von der Ernte des Vorjahres sollen noch mehr als 20 Millionen Tonnen auf Lager liegen. Derweil ist die Frühjahrsaussaat trotz des Krieges im Gang: Auf 70 bis 80 Prozent der Flächen könne ausgesät werden. Vergünstigte Kredite des Staates für die Anschaffung von Dünger, Saatgut und Maschinen sollen die Produktion auch im Kriegsjahr 2022 in Gang halten. Die Ukraine ist einer der wichtigsten Erzeuger von Sonnenblumenöl, Getreide und Mais. Wegen des russischen Überfalls sind die Preise für Nahrungsmittel weltweit gestiegen, mit Konsequenzen vor allem für arme Länder.

Schwerwiegende Auswirkungen hat der Krieg auf die Staatsfinanzen. Die ukrainische Regierung ist bei der Finanzierung ihrer Ausgaben auf das Ausland angewiesen und benötigt nach eigener Einschätzung jeden Monat 5 Milliarden Euro Unterstützung. Das Budgetdefizit der Ukraine dürfte laut WIIW auf 25 Prozent des BIP steigen. Beinahe täglich kündigen daher westliche Regierungen, die EU und die großen Finanzinstitute IWF, Weltbank, Europäische Investitionsbank oder Osteuropabank neue Hilfen an. Sie allein summieren sich auf einen zweistelligen Milliardenbetrag. Vor allem die USA tun sich mit Militär- und Wirtschaftshilfe hervor. 

Russlands Wirtschaftseinbruch

Auch für die russische Wirtschaft wird ein heftiger Konjunktureinbruch vorhergesagt. Da das Land aber keinen Kriegsschauplatz darstellt, sondern seinerseits den Krieg im Nachbarland vom Zaume gebrochen hat, ist der Einbruch eine Folge der Sanktionspolitik des Westens und fällt auch nicht ganz so stark aus wie in der Ukraine. Russische Ökonomen erwarten einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen 10 und 15 %, die offizielle Prognose dürfte eine Schrumpfung um mehr als 10 % vorsehen. Ein größeres Minus hatte das Land laut Daten von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) zuletzt 1994 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verzeichnet. Moskau hatte für 2022 ursprünglich mit einem Wachstum von 3 Prozent geplant, nach 4,7 Prozent im vergangenen Jahr. Analysten erwarten zudem, dass die Inflationsrate im laufenden Jahr auf fast 24 Prozent steigen könnte. Das wäre die stärkste Teuerung seit 1999. Offiziellen Daten zufolge sind die Verbraucherpreise im März um fast 17 Prozent zum Vorjahresmonat gestiegen, nach 9,15 Prozent im Februar. Eigentlich strebt die russische Zentralbank eine Inflationsrate von vier Prozent an.

Ein mögliches Energieembargo vonseiten der Europäischen Union ist in diesen Zahlen noch nicht berücksichtigt. Je nachdem, wie schnell dieses vollzogen werden würde, könnte dies die russische Wirtschaft (und den Staatshaushalt) noch einmal empfindlich treffen. Die bereits verhängten Sanktionen (u.a. Exportverbote im Technologiebereich) dürften schon bald erhebliche Folgen nach sich ziehen. In einem aktuellen Bericht der russischen Notenbank heißt es, dass insbesondere der Maschinenbau und die Elektroindustrie durch den Ausfall selbst weniger ausländischer Komponenten „gelähmt“ werden könnten. Und der Weggang westlicher Firmen, glauben die Analysten, könne mit seinen negativen Folgen sogar die Auswirkungen der Sanktionen übertreffen.