Eine lange Eingewöhnungsphase wird man der neuen Bundesregierung wohl nicht zugestehen: Die EU der 27 muss weiter stabilisiert, weiter gestärkt, weiter vertieft werden, wenn es seinen eigenen globalen Ansprüchen gerecht werden will, und gerade auf Deutschland, der größten europäischen Volkswirtschaft, werden dabei viele Blicke gerichtet sein. Das Aufgabenspektrum, das sich Mitgliedstaaten, Kommission und Parlament stellt, ist schließlich riesengroß: Green New Deal, Corona-Wiederaufbauprogramm, digitale Souveränität, globaler Systemwettbewerb, Handelskonflikte, gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik. Mehr denn je wird es darauf ankommen, dass das vereinte Europa sein Potenzial voll ausschöpfen und zur Geltung bringen kann. Wo immer es sinnvoll ist, sollte die nächste Bundesregierung daher auf „mehr Europa“ drängen und bereit sein, dieses Europa tatkräftig zu unterstützen.
Nationale Gesetzgebungen statt Finanzbinnenmarkt
Einen Bereich gibt es, der noch immer von nationalstaatlichen Grenzen und Regeln bestimmt wird und deswegen ganz besonders nach mehr europäischer Integration ruft: der europäische Finanzbinnenmarkt. Im allgemeinen Bewusstsein ist dies kaum präsent, aber knapp 30 Jahre nachdem am 1. Januar 1993 der europäische Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten für den Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr in Kraft trat, ist der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen bislang nur in Ansätzen erkennbar. Noch immer sorgen unterschiedliche nationale Gesetzgebungen dafür, dass wir eher von 27 Teilmärkten reden müssen als von einem einheitlichen Markt für Banken und Finanzdienstleistungen.
Dies ist ein höchst unbefriedigender Zustand, denn ein einheitlicher europäischer Finanzbinnenmarkt ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass starke und wettbewerbsfähige pan-europäische Banken die europäische und deutsche Wirtschaft zuverlässig unterstützen können. Ein einheitlicher Finanzbinnenmarkt hätte zur Folge, dass Verbraucher und Wirtschaft aus sehr viel mehr europäischen Finanzprodukten auswählen könnten; durch eine stärkere Ertragskraft der Banken würde obendrein Kapital und Liquidität freigesetzt und stünde für eine noch bessere Kreditversorgung zur Verfügung. Darüber hinaus trägt ein einheitlicher Finanzbinnenmarkt zur besseren Risikodiversifizierung innerhalb Europas bei und würde so die Anfälligkeit für regionale Krisen reduzieren.
Kostenvorteile durch Finanzbinnenmarkt
Die dänische Wirtschaftsberatungsgesellschaft Copenhagen Economics hat im vergangenen Jahr konkret berechnet, dass eine stärkere Integration des EU-Finanzbinnenmarktes Kostenvorteile von langfristig rund 95 Milliarden Euro pro Jahr im europäischen Bankensektor zur Folge haben könnte. Die potenziellen langfristigen Vorteile eines einheitlichen Bankenmarktes in Europa entsprächen damit einem Rückgang der Kosten für Finanzdienstleistungen um rund 12 Prozent, heißt es in der Studie. Resultieren würden diese Vorteile aus einer höheren Effizienz, aber auch aus der stärkeren Verbreitung erfolgreicher Geschäftsmodelle innerhalb der EU. In der Studie wird explizit darauf verwiesen, dass ein integrierter EU-Bankenmarkt eine bessere Verfügbarkeit von Krediten für Unternehmen und Verbraucher gewährleiste – und zwar unabhängig von der Lage des Finanzsektors des jeweiligen Heimatlandes, was gerade in Krisenzeiten, die sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die einzelnen EU-Staaten haben können, von Belang ist.
Die Vorteile weiterer Integrationsschritte liegen also auf der Hand. Was ist zu tun? Die bisher noch unterschiedlichen nationalen Rechtsrahmen für die Finanzwirtschaft müssen weiter vereinheitlicht bzw. harmonisiert werden. Ziel muss es sein, dass Banken bei grenzüberschreitendem Geschäft von Skaleneffekten profitieren können. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang: Es sollten grenzüberschreitende Kapital- und Liquiditätswaiver auf europäischer Ebene geschaffen werden, damit paneuropäische Bankgruppen ihr Kapital und die Liquidität europaweit zentral steuern können; bislang ist dies nicht möglich.
Weitere Schritte zur Kapitalmarktunion gehen
Zentrales Element eines europäischen Finanzbinnenmarktes ist die europäische Kapitalmarktunion, deren Bedeutung in der Politik noch immer unterschätzt wird. Ein effizienter und europaweiter Kapitalmarkt wird gerade in den nächsten Jahren von allergrößter Bedeutung sein, schließlich gilt es, einen umfassenden Transformationsprozess zu finanzieren, der unsere Volkswirtschaften ins digitale und klimaneutrale Zeitalter führen soll – allein über die Banken wird das nicht funktionieren. Eine europäische Kapitalmarktunion würde einen solchen europaweiten Kapitalmarkt schaffen, damit zugleich die Finanzstabilität innerhalb der EU stärken und ihr zu mehr Souveränität im globalen Wettbewerb verhelfen. Gerade mit Blick auf den nach dem Brexit verkleinerten EU-Kapitalmarkt sind Fortschritte für eine Kapitalmarktunion noch dringlicher geworden.
An dem Vorhaben „Kapitalmarktunion“ wird bereits seit 2015 in Brüssel gearbeitet. Erst im September 2020 hat die Europäische Kommission einen zweiten Aktionsplan vorgelegt und darin neue Aktionen zur Vertiefung der Kapitalmarktunion angekündigt. Hierzu gehört auch die Überarbeitung einer Reihe von EU-Rechtsakten. Wichtig ist nun, dass das Tempo noch einmal erhöht wird und die kommende Bundesregierung sich dieses Projekt zu eigen macht. Viele kleine Einzelmaßnahmen sind notwendig, damit die Kapitalmarktunion Gestalt annimmt. Beispiele: Das Verbriefungsrahmenwerk sollte überarbeitet, das Insolvenzrecht wie das Steuerrecht und Steuerverfahren gezielt harmonisiert werden. Auch ist es notwendig, die grenzüberschreitende Wertpapierabwicklung zu verbessern und der Anlegerschutz zu überarbeiten. Richtig ist zwar, dass sich die Vereinheitlichung der EU-Kapitalmärkte – trotz aller Dringlichkeit – nicht innerhalb kurzer Zeit oder mithilfe von nur wenigen Maßnahmen umsetzen lässt. Umso wichtiger ist es aber, sie als politisches Projekt entschieden voranzutreiben.
Es bleibt viel zu tun
In den letzten Jahren wurden durchaus viele Fortschritte erzielt – bei der Bankenunion mit einer einheitlichen Aufsicht und Abwicklung, aber auch mit Blick auf die Kapitalmarktunion. Dennoch bleibt viel zu tun. Der mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs verbundene schwierigere Zugang zum Finanzplatz London zeigt deutlich, dass die EU ihre eigenen Infrastrukturen ausbauen und mit einem modernen Finanzmarktregelwerk wettbewerbsfähig bleiben muss.