Gastbeitrag von Christian Ossig, Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes, in der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen vom 02. Januar 2020
Das Vorhaben ist plausibel, notwendig und wegweisend – doch seine Verwirklichung stockt: Mit der 2015 von der Europäischen Kommission erstmals umrissenen Kapitalmarktunion würde ein echter EU-Binnenmarkt für Kapital geschaffen, von dem Unternehmen, Anleger und die gesamte Wirtschaft Europas enorm profitieren könnten. Leider hat sich das Projekt bislang im Kleingedruckten verloren. Die Zeit für einen zweiten Anlauf ist deshalb gekommen.
Entscheidend für einen erfolgreichen zweiten Anlauf zur Kapitalmarktunion ist, dass die Grundkonzeption bzw. das Narrativ dieses Mal stimmen. Tatsächlich geht es um nicht weniger als um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und finanzielle Souveränität Europas. Es geht um die Kapazität und Stabilität der Finanzmärkte, es geht um die Frage, wie wir innovatives und nachhaltiges Wachstum finanzieren können, und es geht darum, die Bürger an diesem Wachstum partizipieren zu lassen. Diese kraftvollen Botschaften und ambitionierten Ziele sollten als eine Art Leuchtfeuer dienen, um die öffentliche Aufmerksamkeit für das Projekt „Kapitalmarktunion“ signifikant zu steigern.
Der Aktionsplan der Europäischen Kommission aus dem September 2015 hat diese Stoßrichtung noch nicht gehabt; er war zu sehr geprägt vom Blick zurück auf die Finanzkrise und entsprang dem Wunsch, lediglich Alternativen zur Bankenfinanzierung zu erschließen. Die bloße Substitution eines Bankkredites durch eine Anleihe sorgt jedoch nicht für mehr Investitionen oder Wachstum. Die vergangenen Jahre haben vielmehr eines deutlich gemacht: Die Finanzierung eines großen Teiles der europäischen Wirtschaft durch Banken hat sich bewährt. Der Kapitalmarkt ist eng mit dem Bankensektor verknüpft und sollte es – im Interesse der Bankkunden und im Interesse seiner eigenen Funktionsfähigkeit – auch künftig bleiben. Die Kapitalmarktunion muss entsprechend eingefügt sein in eine Gesamtarchitektur der Finanzmarktregulierung, die der Rolle der Banken als Intermediäre Rechnung trägt. Dies gilt insbesondere mit Blick auf MiFID und auf die Umsetzung von Basel IV in europäisches Recht.
Resistenter gegen Krisen
Doch bei einer wirklichen Kapitalmarktunion geht es eben um mehr, es geht um neue Chancen und größere Perspektiven. Eine wirkliche Kapitalmarktunion erhöht die Finanzmarktstabilität in Europa; Risiken würden grenzüberschreitend und auf deutlich mehr Akteure verteilt als bislang. Tiefe und grenzüberschreitend verbundene Kapitalmärkte in der EU wiederum machen den Kontinent resistenter gegen Finanz- und Konjunkturkrisen auch in anderen Regionen und stärken seine finanzpolitische Souveränität. In Zeiten, da einzelne Wirtschaftsmächte eher auf rustikale nationale Interessenspolitik und weniger auf multilaterale Kooperation setzen, gewinnt dieser Aspekt zusehends an Bedeutung. Die Europäische Kommission hatte Ende 2018 selbst auf den Zusammenhang zwischen einem Aufbau der Kapitalmarktunion und der Stärkung von Europas Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit – vor allem gegenüber den Wirtschaftsmächten USA und China – hingewiesen. Letztlich geht es darum, das eigene Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu schützen, europäische Interessen global zu verteidigen und, wo möglich, globale Standards zu setzen.
Konkret bedeutet dies vor allem eines: Die Kapitalmärkte in Europa müssen so gestaltet sein, dass die Wirtschaft davon profitiert. Dabei geht es nicht darum, mittelständische Unternehmen, die – wie in Deutschland – von Banken zuverlässig finanziert werden, gegen ihre Überzeugung an die Börse zu drängen. Die Finanzierung über Banken wird weiterhin die entscheidende Rolle spielen. Der Blick voraus macht allerdings deutlich, dass die zukünftigen Finanzierungsbedürfnisse verstärkt auch über den Kapitalmarkt befriedigt werden müssen. Der enorme Innovationsbedarf der europäischen Wirtschaft erfordert ein deutlich höheres Maß an Eigenkapitaleinsatz (bzw. Risikokapital) als bislang. Hinzu kommen die umfangreichen Investitionsmaßnahmen, die notwendig sein werden, um die Transformation unserer Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität und Nachhaltigkeit zu finanzieren. Auch wichtig: Gerade die großen Unternehmen benötigen effiziente und wettbewerbsfähige Finanzierungpartner, die ihrerseits ihr Potenzial besser ausschöpfen können, wenn die Kapazitäten des europäischen Marktes voll erschlossen sind.
Ein zentrales Instrument bleibt in diesem Zusammenhang die Verbriefung, mit der Banken die von ihnen vergebenen Kredite gebündelt an Investoren weiterreichen können. Dieses Instrument muss als Chance angesehen werden, um Banken und Markt miteinander zu verknüpfen. Dies gilt gerade auch für die deutsche Wirtschaft mit ihrer sehr soliden Finanzierung durch den Bankensektor. Hinzu kommt, dass aufgrund der strukturellen Abhängigkeit der deutschen Exportbranche vom europäischen Markt eine gute Finanzierungssituation allein in Deutschland für den wirtschaftlichen Erfolg hierzulande auf Dauer nicht ausreicht.
Angemessene Regulierung notwendig
Aus Anlegersicht ist wichtig, dass die Kapitalmarktunion den Anlegern und Investoren einen diversifizierten, transparenten, aber auch unkomplizierten Zugang zum Kapitalmarkt ermöglicht. Hierfür sind eine angemessene Regulierung und ein Verbraucherschutz notwendig, der dem Privatanleger die nötigen Informationen verschafft, ihn aber nicht aus der Entscheidungsfreiheit und Verantwortung entlässt. Wie die Kapitalmarktunion gelebt und genutzt wird, ist aber auch eine Frage kultureller Prägung und kann von Region zu Region unterschiedlich aussehen. Damit die Bürger in Europa gleichermaßen von den Kapitalmärkten profitieren können, müssen die Finanzbildung und die allgemeine Investitionskultur deutlich weiterentwickelt werden.
Mit dem Brexit verliert die Europäische Union den größten Teil ihres Kapitalmarktes. Davon betroffen sind auch Transaktionen, die heute beispielsweise zwischen Deutschland und Frankreich vereinbart, aber über London abgewickelt werden. Zu Recht hat die EU-Kommission auf das britische Referendum von Juli 2016 reagiert, indem sie die Verwirklichung der Kapitalmarktunion „jetzt erst recht“ eingefordert hat. Mit dem Verlust des britischen Kapitalmarktes wird die Vertiefung und grenzüberschreitende Integration der EU-27-Märkte noch dringlicher. Entscheidend ist allerdings, dass der EU-Markt dabei nicht gegen ausländische Märkte und Investoren abgeschirmt wird; dies würde ihm letztlich nur selbst schaden.
Markets for Europe – sechs Prinzipien
Manche großen Projekte bedürfen der Unterstützung von außen, damit es wirklich voran geht; dies gilt auch für die europäische Kapitalmarktunion. Aus diesem Grund wurde Anfang Juni 2019, auch auf Initiative des Bankenverbandes, die privatwirtschaftliche Initiative „Markets for Europe“ mit dem Ziel gegründet, die Diskussion zur Fortentwicklung der Kapitalmarktunion voranzutreiben. Getragen wird die Kampagne von 16 CEOs europäischer Unternehmen sowie von sechs ehemaligen Politikern oder Notenbankgouverneuren. Letztere sind Vítor Constâncio, ehemaliger EZB-Vizepräsident und Gouverneur der portugiesischen Zentralbank, Martina Dalić, ehemalige Finanzministerin Kroatiens, Enrico Letta, ehemaliger Premierminister Italiens, Christian Noyer, ehemaliger EZB-Vizepräsident und Gouverneur der Banque de France, Viviane Reding, ehemalige Vizepräsidentin der EU-Kommission, sowie Peer Steinbrück, ehemaliger Bundesfinanzminister. Im Oktober 2019 hat „Markets for Europe“ in Brüssel eine Roadmap vorgestellt, die Argumente und Politikempfehlungen zur Vertiefung des europäischen Kapitalmarktes liefert und hierbei nicht zuletzt von den unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen der CEOs aus den vier Bereichen Unternehmen, Investoren, Marktinfrastruktur und Banken profitiert.
Worauf kommt es aus Sicht von „Markets for Europe“ an? In der Roadmap werden die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Fortentwicklung der Kapitalmarktunion in sechs Forderungen bzw. Empfehlungen zusammengefasst. Einzeln lauten sie wie folgt: Es muss – erstens – gelingen, langfristige Ersparnisse besser zur Finanzierung von Unternehmen zu nutzen. Grenzüberschreitende Investitionen sollten – zweitens – idealerweise ebenso unkompliziert möglich sein wie innerhalb des eigenen Rechtsraums. Drittens gilt es, steuerliche Hürden für Investoren und Anleger, aber auch für Unternehmen nach Möglichkeit abzubauen. Viertens müssen der direkte und der indirekte Zugang von Unternehmen zum Kapitalmarkt verbessert werden. Fünftens ist es notwendig, die Finanzbildung von Unternehmen und Anlegern europaweit deutlich zu stärken. Und sechstens schließlich muss sich Europa wim internationalen Wettbewerb – wirtschaftlich wie politisch – behaupten können.
„Markets for Europe“ wird in den kommenden Monaten seine Roadshow, die mit einer Konferenz in Paris im November 2019 begonnen hat, fortführen, um die Diskussion zur Kapitalmarktunion in die unterschiedlichen europäischen Hauptstädte – im Februar 2020 auch nach Berlin – zu tragen.
Fazit
Neben „Markets for Europe“ haben auch andere Initiativen und Institutionen in jüngster Zeit Berichte, Analysen und Vorschläge zur Kapitalmarktunion vorgelegt und eine Vielfalt von Ideen in die Diskussion eingebracht, die noch nicht abgeschlossen ist. Ungeachtet einzelner Interessensunterschiede herrscht ein breiter Konsens über die Notwendigkeit einer Kapitalmarktunion und über ihre zentralen Stellschrauben.
Ausschlaggebend ist nun der Wille der politisch Verantwortlichen. Hier kommt es nicht allein auf die Kommission und das Europäische Parlament, sondern vor allem auf die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union an. Gerade Deutschland und Frankreich sollten dieses Projekt als Chance begreifen, das vereinte Europa auf einem wichtigen Feld weiter voranzubringen. Erneut wird es auf die Bereitschaft von Mitgliedstaaten ankommen, nationale Souveränität auf die EU zu übertragen, um von der gestärkten europäischen Souveränität zu profitieren. Nicht jede Maßnahme wird für jeden Mitgliedstaat gleichermaßen Vorteile bringen – der Gesamtblick und das nötige Maß an Kompromissbereitschaft sind daher unverzichtbar, um die Vertiefung des europäischen Marktes zu erreichen.