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EU-Wiederaufbaufonds: Noch viel Geld vorhanden

16.11.2023Artikel
Dr. Henrik Meyer
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Viele Beobachter sprachen von einem Meilenstein, andere von einem Befreiungsschlag: Um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in den Mitgliedstaaten einzudämmen, einigten sich Kommission, EU-Mitgliedstaaten und Europäisches Parlament vor über drei Jahren darauf, einen Wiederaufbaufonds mit einem Umfang von mehr als 720 Milliarden Euro zu errichten. 

Gelder für den Umbau der Wirtschaft

Der Wiederaufbaufonds, der unter dem Label „Next Generation EU“ läuft, zielt nicht nur darauf ab, die Folgen der Pandemie zu lindern, sondern will vor allem Investitionen in die Zukunft und in den Umbau der Wirtschaft ankurbeln. Die Mitgliedstaaten sollen das Geld für diverse Reformprojekte aus den Bereichen „grüner“ Umbau, digitale Transformation, nachhaltiges Wachstum, sozialer und territorialer Ausgleich, Gesundheits- und Krisenprävention sowie Bildungspolitik ausgeben.

Für den Aufbaufonds hat sich die EU zum ersten Mal in großem Umfang selbst verschuldet; vor allem deswegen gilt er als historisch. Doch wie funktioniert er genau? Die von der EU am Markt aufgenommenen Gelder sollten und sollen nach einem Bedürftigkeitsschlüssel an die Mitgliedstaaten weitergereicht werden. Zur Hälfte fließen die Gelder als Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen, zur Hälfte als Kredite. Die Logik des Fonds: Geld gibt es nur gegen Reformen. Länder, die Mittel aus dem Corona-Fonds beantragen, müssen Reformpläne schneidern, die einem oder mehreren der sechs Umbau-Ziele entsprechen, wobei mindestens 37 Prozent dem Klima- und mindestens 20 Prozent dem Digitalziel zugutekommen müssen. Ausgezahlt wird das Geld erst, wenn die Kommission die Projekte genehmigt hat. 

Nur ein Fünftel der Gelder ausgezahlt

Was auf dem Papier gut klingt, hat den Praxistest bislang aber noch nicht oder nur in Teilen bestanden. Denn Fakt ist: Bis Mitte Juli dieses Jahres war von den 750 Milliarden Euro gerade ein Fünftel, genauer 153,4 Milliarden Euro (106,3 Milliarden Euro als Zuschüsse und 47,1 Milliarden Euro als Kredite) ausbezahlt. Und auch in den vergangenen Monaten hat sich nichts Grundlegendes mehr geändert. Jeder Mitgliedstaat hat im Durchschnitt erst 23 Prozent der Zuschüsse beantragt. An den Krediten sind bislang nur sieben Länder überhaupt interessiert.

Woran kann das liegen? Der Reformzwang und die Zweckbindung scheinen die Gelder für manche Staaten unattraktiv zu machen, so die Expertenmeinung. Die Empfänger müssen Dutzende, manchmal Hunderte sogenannte „Meilensteine“ abarbeiten. Das können zum Beispiel die Verabschiedung eines bestimmten Gesetzes oder das Aufsetzen neuer IT-Systeme für eine Behörde sein. Die Zwischenziele des Wiederaufbaufonds erfüllen die Staaten kaum, jede Regierung setzte im Durchschnitt gerade einmal 17 Prozent um – viele Staaten, so die Kommission, müssten nacharbeiten. Außerdem hätten viele Mitgliedsländer ihre Pläne, wie sie die Mittel ausgeben wollen, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine geändert, um Investitionen im Energie-Bereich zu finanzieren. Und diese Modifikationen müssten wieder von der Kommission geprüft werden.

Zudem ist die Beantragung aufwendig, lokalen Behörden fehlen oft die Mitarbeiter dafür. Und besonders bekannt ist das Hilfsprogramm auch nicht, wie eine Umfrage des Europäischen Ausschusses der Regionen unter fast 3000 Ämtern zeigt. Ungefähr in jedem zweiten hatte man noch nie von einem Wiederaufbaufonds der EU gehört. 

Viel Bewertungsspielraum

Zweifelhaft ist zudem, ob die Mittel aus dem Wiederaufbaufonds tatsächlich in die richtigen Projekte fließen. Für die wichtigsten Ziele – Energiewende und Digitalisierung – gaben die Empfänger nach EU-Daten bisher lediglich 21 und 11 Milliarden Euro aus. Viel mehr Gelder wurden für wenig präzise definierte Verwendungen ausbezahlt, etwa eine Vielfalt von Projekten, die als „Wachstumsförderung“ laufen, in „sozialen und territorialen Ausgleich“ sowie in Gesundheits- und Krisenprävention. Sowohl die Staaten als auch die Kommission haben viel Bewertungsspielraum, wenn es darum geht, die Förderungswürdigkeit der Projekte zu beurteilen. 

Italien und Spanien

Das wenige Geld, das doch abgerufen wird, fließt vor allem an ein Land: Italien. Der Wiederaufbaufonds sieht insgesamt 385 Milliarden Euro für Kredite vor, von denen bisher 47 Milliarden überwiesen wurden. 38 Milliarden Euro davon erhielt die Regierung in Rom. Bei den Zuschüssen sieht es ähnlich aus: 335 Milliarden Euro stehen bereit, 106 Milliarden zahlte die EU aus, 29 Milliarden bekam Italien. Nur Spanien rief noch mehr Zuschüsse ab, nämlich 37 Milliarden Euro.

Der Wiederaufbaufonds soll bis Ende 2026 bestehen bleiben. Werden bis dahin alle Gelder verteilt sein? Der Präsident des Europäischen Rechnungshofs, Tony Murphy, geht nicht davon aus, dass dies möglich sein wird, hält es aber für sinnvoll, die Laufzeit des Programms zu verlängern, bis die Mittel abgeflossen sind. Sonst sei zu befürchten, dass kurz vor Programmende Geld zweckfremd ausgegeben oder verschwendet werden. Andere Stimmen erkennen allerdings auch Gutes darin, wenn der Fonds nicht voll ausgeschöpft wird. Schließlich müssten die Schulden auch (bis 2058) zurückgezahlt werden, was angesichts gestiegener Zinsen kein günstiges Unterfangen ist. Die Zinskosten allein kalkulieren die Ökonomen bis zum Ende der Rückzahlungsperiode im Jahr 2058 auf zwischen 225 und 230 Milliarden Euro, wobei die Kalkulation jenen Teil des 750-Milliarden-Euro-Pakets betrifft, den die EU den Staaten als nicht rückzahlbare Zuschüsse gewährt.