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Kapitalstock: Deutschland lebt seit Jahren von seiner Substanz

30.06.2023Artikel
Dr. Henrik Meyer
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Deutschland hat in den vergangenen Jahren an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt: Das Land steht beim Wirtschaftswachstum in Europa auf den hinteren Plätzen, der Fachkräftemangel wird immer bedrohlicher, und die vergleichsweise hohen Energiepreise stellen eine weitere Belastung für die Unternehmen dar. Eine neue Analyse des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) lenkt den Blick nun auf ein weiteres Feld, auf dem Deutschland schlecht dasteht: auf den Kapitalstock.

Die Forscher kommen zum Ergebnis, dass im Vergleich mit vielen anderen entwickelten Volkswirtschaften Deutschlands Kapitalstock in den vergangenen knapp 20 Jahren erheblich an Qualität verloren habe und das Land daher schon seit Längerem von der Substanz lebe. Doch was ist überhaupt der Kapitalstock? Zum Kapitalstock eines Landes zählen Fabrikgebäude, Maschinen, Straßen und Schulen aber auch geistiges Eigentum aus dem Bereich Forschung und Entwicklung, Software und Datenbanken. 

Höherer Kapitalstock, höhere Wertschöpfung

Der Zusammenhang zwischen einem modernen Kapitalstock und der Produktivität einer Branche oder einer Volkswirtschaft ist naheliegend – und zeigt sich auch in der deutschen Industrie: Je moderner der Kapitalstock, desto höher die Wertschöpfung je Beschäftigten. 

Umgekehrt gilt: Veraltet er, drohen Nachteile im internationalen Konkurrenzkampf. Um dies zu verhindern, muss kontinuierlich in die Erneuerung des Kapitalstocks investiert werden. In Deutschland wurde das über Jahre vernachlässigt. 

Die Modernität des Kapitalstocks kann näherungsweise ermittelt werden, indem das Verhältnis vom Netto- zum Bruttokapitalstock betrachtet wird. Beim Bruttokapitalstock werden alle Güter mit ihrem Neuwert umfasst, beim Nettokapitalstock werden die Abschreibungen abgezogen. An diesem Verhältnis kann ermittelt werden, wie gut Fabriken und Infrastruktur von Unternehmen und vom Staat in Stand gehalten werden: Je kleiner der Nettowert im Vergleich zum Bruttowert, desto veralteter der Kapitalstock. 

Überdurchschnittlicher Rückgang in Deutschland 

Nach Berechnungen der Volkswirte vom vfa ging der Modernitätsgrad des Kapitalstocks hierzulande zurück – und zwar deutlicher als in den anderen untersuchten Ländern. Zwar sei es nachvollziehbar, dass der Kapitalstock im Inland etwas veraltet, da viele Direktinvestitionen nach China und in andere asiatische Länder fließen. Dies erkläre aber nicht, warum Frankreich, Großbritannien, die Niederlande und erst recht Kanada sehr viel besser dastehen als Deutschland. Wichtigster Grund für das schlechte Ergebnis Deutschlands: der Verschleiß der gebauten Infrastruktur. Vor allen Dingen der öffentliche Kapitalstock wurde über Jahre vernachlässigt, was sich im häufig beklagenswerten Zustand von Schulen, Brücken oder der Bahninfrastruktur widerspiegelt. 

Die gute Nachricht ist, dass sich der Substanzverlust seit etwa 15 Jahren nur noch in den Bauten zeigt. Dieser bleibt aber so groß und die Bedeutung der Bauten am Kapitalstock insgesamt so gewichtig, dass er nicht durch einen leichten Aufwärtstrend bei der Modernität des Wissens aus Forschung und Entwicklung kompensiert werden kann. 

Industrie stellt wichtige Teile des Kapitalstocks

Ein besonderer Blick lohnt auf die Industrie, die gesamtwirtschaftlich für gut ein Fünftel der Wertschöpfung im Land steht. Zu den Schlüsselindustrien in Deutschland zählen vor allem die Branchen Automobil, Chemie, Pharma, die Elektroindustrie und der Maschinenbau. Innerhalb der Industrie sind es die Wirtschaftszweige Pharma, Automobil und Maschinenbau, die einen überdurchschnittlichen Modernitätsgrad des Kapitalstocks aufweisen, gefolgt von EDV und dem sonstigen Fahrzeugbau. 

Verglichen mit dem Jahr 1991 konnten allerdings nur wenige Industrien den Modernitätsgrad des Kapitalstocks halten oder gar ausbauen. Positiver als im industriellen Durchschnitt haben sich die Bereiche Kfz, Pharma, Mineralölverarbeitung, EDV und die Metallverarbeitung entwickelt. Überwiegend haben also diejenigen Wirtschaftsbereiche ihren Kapitalstock erhalten, die in den vergangenen Jahren auch Wertschöpfungsanteile stabilisieren oder hinzugewinnen konnten. Der gesamtwirtschaftliche Verlust an Wettbewerbsfähigkeit ist also auch im industriellen Kern zu beobachten. 

Von großer Bedeutung für die Zukunft ist die Entwicklung des Kapitalstocks geistigen Eigentums. Hier finden erhebliche Verschiebungen zwischen den Wirtschaftszweigen statt. Mit 59 Prozent ist die Industrie mit Abstand der bedeutendste Sektor für die Entwicklung des geistigen Kapitals – genauer, des Kapitalstocks aus Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. Seit mehr als zehn Jahren ist dabei ein Aufwärtstrend erkennbar, angeführt wird die Entwicklung vom Automobilbau sowie der Pharma- und der Maschinenbauindustrie. Mittlerweile ist in Deutschland das geistige Eigentum der modernste Teil des gesamtwirtschaftlichen Anlagevermögens.