Deutschlands Bank-Volkswirte glauben weiter an den Aufschwung- und daran, dass die Inflation deutlich sinkt. Bei Lohnerhöhungen brauche es allerdings Augenmaß, sagt Holger Schmieding.
Deutschlands Wirtschaftsleistung wird in diesem Jahr nicht - oder nur geringfügig - größer sein als 2022: Das ist das zentrale Ergebnis der gemeinsamen Konjunkturprognose, die Chefvolkswirte der im Bundesverband deutscher Banken (BdB) zusammengeschlossenen Kreditinstitute gerade erarbeitet haben. Holger Schmieding, der dem BdB-Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik vorsteht, erläutert im Interview die Hintergründe.
WELT: Herr Schmieding, wirft das Bankenbeben schon alle Konjunkturprognosen über den Haufen?
HOLGER SCHMIEDING: Nein. Wir, die im Bankenverband zusammengeschlossenen Chefökonomen, haben intensiv über das Beben der letzten Wochen diskutiert, haben aber letztlich unsere Prognosen nicht revidiert. Das liegt daran, dass sich seit dem Spätherbst vergangenen Jahres der Wirtschaftsausblick deutlich aufgehellt hat. Deshalb wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass wir unsere Prognosen etwas nach oben korrigieren können. Das haben wir nicht getan. Die Unruhe an den Märkten dämpft in der Tat das Aufwärtspotenzial für die Konjunktur für die kommenden Monate. Aber wie wir ja auch gerade beim deutschen Ifo-Index zu Wochenbeginn gesehen haben, ist das Konjunktur-Momentum noch in Takt.
Sie klingen sehr entspannt.
Es müsste schon zu größeren Turbulenzen kommen, als wir sie bisher gesehen haben, um dieses Aufwärts-Momentum wirklich so zu brechen, dass unsere Prognosen kippen würden.
Aber die Banken könnten jetzt ihre Kreditvergabe einschränken. Wie stark hängt das Wachstum der deutschen Wirtschaft von Krediten ab?
Das lässt sich sehr schwer quantifizieren. Der erste Effekt ist immer der Vertrauenseffekt. Wenn alle über Krise reden, halten sich viele bei ihren Ausgaben zurück. Das ist möglich, aber bisher kann ich noch nicht erkennen, dass die Verbraucher ihr Ausgabeverhalten und ihr Kreditverhalten geändert haben. Was die mögliche Zurückhaltung bei der Kreditvergabe der Banken betrifft, wird diese durch zwei Faktoren relativiert: Die Europäische Zentralbank dürfte früher mit den Zinsanhebungen aufhören. Es sieht jetzt nicht mehr so aus, als würden wir beim Einlagensatz über vier Prozent gehen, bei 3,5 Prozent könnte Schluss sein.
Nützt aber nichts, wenn sie gar nicht erst einen Kredit bekommen, weil die Banken ihre Standards verschärfen.
Der niedrigere Zinsgipfel ist der erste große Puffer. Der zweite ist, dass Haushalte und Unternehmen in Deutschland und Europa, aber auch in den USA eine relativ gute Finanzlage haben. Im Durchschnitt haben Haushalte während der Pandemie Zusatzersparnisse gebildet, die sie noch nicht ausgegeben haben. Sie haben weit mehr gespart als in normalen Zeiten, weil sie sich große Sorgen machten und während der Lockdowns ja auch weniger als sonst ausgeben konnten. Ich spreche hier von einem Betrag, der bei uns etwa 14 Prozent der jährlichen Konsumausgaben ausmacht. Das heißt, wir brauchen eigentlich weniger Kredit als üblich. Auch bei den Unternehmen ist die Notwendigkeit angesichts der guten Liquiditätspolster geringer. Deshalb sehen wir bisher über die beiden Übertragungswege - Vertrauen und Kreditvergabe - noch keinen entscheidenden Rückschlag für die Konjunktur auf uns zukommen.
Von welchen Summen sprechen wir bei 14 Prozent Zusatzersparnissen?
Für Deutschland handelt es sich um rund 200 Milliarden Euro. Das ist viel Geld. Es ist nicht damit zu rechnen, dass die überschüssigen Ersparnisse in absehbarer Zeit komplett ausgegeben werden. Aber sie bieten einen gewissen Puffer, der es uns ermöglicht, eine eventuell geringere Neigung der Banken abzufedern, Kredite zu vergeben.
Aber könnte es nicht sogar sein, dass Menschen wegen der Turbulenzen am Immobilienmarkt ihre Bauvorhaben zurückstellen und die Überschussersparnisse von 200 Milliarden Euro sogar noch anwachsen?
Das ist theoretisch möglich. Aber lassen Sie uns einen Blick auf die USA werfen: Dort sehen wir, dass der private Wohnungsbau einbricht - und das wird auch bei uns passieren. Gleichzeitig haben die Menschen in den USA aber ihre Überschussersparnis seit Herbst 2021 wieder etwas abgebaut. Denn sie halten sich zwar bei großen Ausgaben zurück, wie dem privaten Wohnungsbau, geben aber stattdessen schlicht mehr Geld für den Konsum aus. Der Konsum entwickelt sich in den USA zurzeit besser als die Einkommen, weil die Menschen auf ihre Ersparnisse zurückgreifen.
Mallorca-Urlaub statt Eigenheim?
Nach der Pandemie wollen viele Urlaub machen, dort ist die Konsumfreude ausgeprägt. In unsicheren Zeiten hält man sich dagegen bei den Brocken zurück. Das gilt vor allem auch bei der größten Einzelinvestition des Lebens: beim Eigenheim oder beim eigenen Apartment.
Klingt nicht gut für die Baukonjunktur.
Die Wohninvestitionen sind die große Einzelschwäche der Konjunktur, die wir in Deutschland in diesem Jahr sehen. In den USA haben wir sie ja schon im vergangenen Jahr gehabt. Der Bau ist tatsächlich der Bremsklotz für die deutsche Konjunktur. Wir rechnen hier mit einem Rückgang um 3,7 Prozent. Deshalb rechnen wir für das Gesamtjahr beim deutschen Wachstum nur mit einer Null. Ich vermute, dass es eine schwarze Null sein wird. Bei den Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen sieht es nicht so schlecht aus. Und die öffentliche Hand dürfte sich freuen, wenn ein paar Bauarbeiter frei sind und dann die eine oder andere Infrastrukturinvestition vielleicht ein bisschen früher durchgezogen werden kann.
Wir erleben gerade große Streiks in Deutschland, die das Land lahmlegen. Könnte das zum Risiko für die Konjunktur werden?
Ich halte die wirtschaftlichen Auswirkungen für begrenzt. Das befürchtete Chaos ist ja auch ausgeblieben. Ein Grund: Wir haben mittlerweile in vielen Bereichen Home Office. Und typischerweise werden die Effekte von Streiks zu einem erheblichen Teil in den Tagen und Wochen danach aufgeholt. Die Aufträge sind ja da und werden später abgearbeitet. Sofern es nicht in diesem Frühjahr oder Sommer viel größere Streiks gibt, werden sich die Auswirkungen nicht in den Quartalszahlen zur Wirtschaftsleistung spiegeln.
Brauchen wir Tarifabschlüsse, die die Inflationsrate ausgleichen, damit der Konsum wieder ins Laufen kommt?
Wir brauchen keine Lohnabschlüsse, die voll der Inflationsrate entsprechen, um den Konsum stabil zu halten. Es existieren ja nach wie vor staatliche Hilfsprogramme. Wenn jetzt die Löhne so stark steigen, wie die Preise gestiegen sind, könnte das auf eine Überkompensation hinauslaufen. Wir zahlen als Land eine höhere Energierechnung, und das sollte in großen Teilen auch bei den meisten Bürgern ankommen, die es sonst auf Dauer als Steuerzahler trifft. Gleichzeitig gilt, dass wir den Menschen mit geringen Einkommen die höheren Kosten über höhere Sozialleistungen ausgleichen sollten.
Die Chefvolkswirte des Bankenverbands rechnen mit einer Inflationsrate von 5,9 Prozent. Welche Lohnforderung halten Sie für wirtschaftlich nachvollziehbar?
Meine ganz persönliche Empfehlung wäre in diesem Jahr ein Plus von fünf Prozent - das aber einschließlich der steuer- und abgabefreien Sonderzahlung. Im kommenden Jahr sollte der Zuwachs keinesfalls über vier Prozent liegen. Wahrscheinlich wird einschließlich der Einmalzahlung beim Lohnplus in diesem Jahr etwa sechs Prozent herauskommen. Das wäre meines Erachtens zwar höher als sinnvoll, aber bei dem angespannten Arbeitsmarkt insgesamt wohl zu verkraften. Wir hatten schließlich auch in den vergangenen Jahren eine Lohnzurückhaltung.
Das Interview mit Holger Schmieding ist am 29. März 2023 in der Print-Ausgabe der Zeitung Die Welt erschienen. Die Online-Fassung des Interviews ist auf welt.de - hier abrufbar.