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Millionen Arbeitskräfte ungenutzt

12.12.2024Artikel
Dr. Henrik Meyer
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Auch wenn die Arbeitslosigkeit in Deutschland schon seit Monaten wieder steigt und 2025 (kurzzeitig) die Drei-Millionen-Grenze überschreiten könnte, bleibt der Fachkräftemangel nach wie vor ein gravierendes Problem. Und mit dem allmählichen Ausscheiden der Baby-Boomer aus dem Arbeitsleben wird sich dieses Problem noch verschärfen: Jahr für Jahr werden dann mehr ältere Beschäftigte in Rente gehen, als Jüngere ins Berufsleben eintreten. Folge: Für die Unternehmen wird es immer schwerer, genügend geeignetes Personal zu finden. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit könnte die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte bis 2035 um bis zu sieben Millionen Personen schrumpfen.

Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial

Aus diesem Grund wird der verstärkte Zuzug von ausländischen Fachkräften als notwendige Maßnahme angesehen, um das Arbeitskräftepotenzial zu heben, also mehr Menschen in eine Beschäftigung zu bringen. Doch auch im Inland gibt es – neben den rund 2,8 Millionen Arbeitslosen – enorme Arbeitskräftepotenziale, die bislang ungenutzt geblieben sind. Darauf hat das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) an der Universität Tübingen in einer Studie hingewiesen, die im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen erstellt wurde. Reserven bestehen demnach bei der Erwerbsbeteiligung der über 50- bis 70-Jährigen, den Menschen ohne Berufsabschluss und den in Deutschland lebenden Zugewanderten. Besonders viel Potenzial gibt es bei den teilzeitbeschäftigten Frauen ohne betreuungspflichtige Kinder.  

Neu an der Studie ist, dass sie die wichtigsten Potenziale klar benennt und Strategien formuliert, wie diese besser genutzt werden können. Insgesamt haben die Autoren sechs Arbeitskräftepotenziale identifiziert, die es zu mobilisieren gilt, und Berechnungen vorgenommen, wie viel zusätzliche Vollzeitstellen geschaffen werden könnten.

Frauen am Arbeitsmarkt

Das mit Abstand größte Potential dürfte der Studie zufolge unter Frauen zu finden sein, die nach einer Pause für die Kindererziehung nicht wieder voll in den erlernten Beruf zurückkehren. Würde auch nur die Hälfte der Frauen, die keine Kinder unter 14 Jahren (mehr) zu erziehen haben, auf die gleiche wöchentliche Stundenanzahl im Beruf kommen wie Männer, stünden dem Arbeitsmarkt rechnerisch 1,7 Millionen zusätzliche Vollzeitkräfte zur Verfügung. 

Noch einmal gut 700.000 Vollzeitbeschäftigte könnten gewonnen werden, wenn Frauen mit jüngeren Kindern ausreichend Betreuungsangebote zur Verfügung hätten. Dazu hat das Forscherteam das Erwerbsverhalten von Frauen mit Kindern unter 14 Jahren mit dem von Frauen ohne Kinder verglichen. Würden in der Gruppe mit Kindern nur 50 Prozent mit so vielen Stunden im Berufsleben stehen wie die Frauen ohne Kinder, wären rechnerisch 717.000 Personen zusätzlich (voll-) erwerbstätig. Wenn es obendrein gelänge, Frauen mit Kindern zu mobilisieren, die gar nicht im Arbeitsleben stehen, sprich: die Lücke in der Erwerbsbeteiligung zwischen Frauen mit Kindern und Frauen ohne Kinder zu schließen, kämen noch einmal 477.000 Vollzeitbeschäftigte hinzu.

Personen ohne Berufsabschluss

Potenzial gibt es auch bei Personen ohne Berufsabschluss: Allein dadurch, dass sie besser unterstützt oder gefördert würden, könnten 609.000 Vollzeitkräfte entstehen. Würde sich insgesamt die berufliche Qualifikation von Personen ohne Abschluss bis hin zu solchen mit Meister- oder Technikerabschluss um je eine Niveaustufe verbessern, könnte dies zu einem Zuwachs von 1,175 Millionen Vollzeitkräften führen. 

Zugewanderte und Ältere

Dann ist da noch die Gruppe der Zugewanderten: Hier sehen die Autoren der Studie einen Beschäftigungszuwachs von 432.000 zusätzlichen Vollzeitkräften als realistisch an. Und bei den älteren, arbeitswilligen Arbeitnehmern ab 50 Jahren wird eine Reserve von 414.000 Vollzeitkräften errechnet.

Ehegattensplitting und Minijobs begrenzen

Ziel der Untersuchung war – wie angedeutet – nicht nur das Abschätzen von Potentialen. Es werden auch Handlungsempfehlungen an Politik und Unternehmen formuliert, insgesamt 60 an der Zahl. Um beispielsweise den Beschäftigungsumfang von teilzeitbeschäftigten Frauen ohne betreuungspflichtige Kinder zu erhöhen, empfehlen die Forscher vor allem Änderungen bei den steuerlichen und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen. Eine markante politische Empfehlung der Studie ist in diesem Zusammenhang die Einschränkung oder gar Abschaffung des Ehegattensplittings bei der Einkommensteuer, da dieses im Ergebnis vielen Frauen Anreize gebe, sich auf Minijobs oder Teilzeitarbeit zu beschränken. Und das gleiche Problem gehe von der beitragsfreien Mitversicherung nicht erwerbstätiger Ehepartner in der gesetzlichen Krankenversicherung aus. 

Eine Einschränkung der für Arbeitnehmer abgabengünstigen Minijobs wird generell empfohlen. Ebenso sieht das IAW aber auch Hindernisse im Arbeitszeitrecht. Mehr Spielraum für flexible Modelle, darunter etwa über den Tagesverlauf „gestückelte“ Arbeitszeiten, könnten Müttern den (Wieder-)Einstieg in größere Arbeitspensen erleichtern, so die Überlegung.

Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausbauen

Mangelnde Kinderbetreuungsmöglichkeiten wären der Analyse zufolge nicht nur durch einen steuerfinanzierten Ausbau der Infrastruktur zu beheben. Ebenso wichtig sei es, Unternehmen das Einrichten von Betriebs-Kitas zu erleichtern. Im Alltag scheitere dies allzu oft an kaum erfüllbaren gesetzlichen und behördlichen Auflagen der Bundesländer. 

Große Chancen sieht das IAW auch darin, Geringqualifizierten durch Aus- und Weiterbildung eine bessere Position auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen und damit ihre Erwerbsbeteiligung zu steigern. Und mit Blick auf Ältere rückt die Studie neben Anreizen für längeres Arbeiten sowie einem Abbau arbeitsrechtlicher Hürden auch die vorgezogene abschlagsfreie Rente für langjährig Versicherte („Rente ab 63“) in den Blick. Sie rät, diese Option wie in Österreich auf einige besonders belastende Berufe zu begrenzen.