35 Jahre nach dem Fall der Mauer kommt der jährlich von der Bundesregierung herausgegebene Bericht zum Stand der Deutschen Einheit zu einem gemischten Ergebnis. Ost- und Westdeutschland seien zwar einerseits längst viel enger miteinander verwoben, als es „manchmal den Anschein“ habe, betonte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, als er den Bericht mit dem Titel „Ost und West: Frei, vereint und unvollkommen“ präsentierte. Auch habe sich Deutschland in den vergangenen 35 Jahren als Ganzes verändert, so Schneider weiter. Und in Grundprinzipien der Gesellschaft wie der Gleichberechtigung der Geschlechter und einem sozialen Miteinander seien sich Ost und West weitgehend einig.
Angleichung der Lebensverhältnisse noch unvollkommen
Ein Blick auf die Zahlen zeige andererseits aber auch, dass die Angleichung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse noch immer unvollkommen sei. Ökonomisch also gibt es nach wie vor ein Gefälle zwischen Ost und West, was sich in höheren Einkommen und vor allem in einem höheren durchschnittlichen Vermögen in den westlichen Bundesländern ausdrückt. Vor allem aber beklagt der Ostbeauftragte, dass es an ostdeutschen Perspektiven in der öffentlichen Debatte mangele. Ostdeutsche seien in führenden Positionen in Wirtschaft und Medien unterrepräsentiert, weswegen ihre Stimme zu kurz komme.
Wie sieht es nun im Einzelnen aus mit der Angleichung wichtiger ökonomischer und gesellschaftlicher Kennziffern zwischen Ost und West?
Zu wenig Führungskräfte aus dem Osten
Herausforderungen sieht der Bericht – wie schon angedeutet – in den Führungsetagen des Landes: Während Ostdeutsche fast 20 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen (inklusive Berlin), liege der Anteil der in Ostdeutschland oder der DDR geborenen Menschen an der Zahl der „Spitzenführungskräfte“ bei etwa 13 Prozent. Ihr Anteil in den Chefetagen der Bundesbehörden ist zuletzt immerhin leicht auf 15 Prozent gestiegen (mit Berlin). 2022 lag dieser Wert noch bei knapp unter 14 Prozent, 2023 bei 14,3 Prozent.
Gravierend ins Gewicht fällt, dass nur acht Prozent der führenden Medienmacher und nur vier Prozent der Wirtschaftsbosse in Ostdeutschland geboren sind. Die Zahlen stammen aus einer Studie, die bei der Universität Leipzig in Auftrag gegeben wurde. Die Unterrepräsentation sei einer der Gründe, warum sich Ostdeutsche noch immer als Bürger zweiter Klasse fühlten, betonte Schneider bei der Vorstellung des Berichts. Außerdem verschenke unser Land viel wertvolles Potenzial.
Rückstand bei Vermögen und Gehältern
Während das durchschnittliche Vermögen der Ostdeutschen weiterhin weniger als 50 Prozent des westdeutschen Durchschnitts beträgt, liegen die Löhne im Schnitt 30 Prozent unter denen in Westdeutschland – was auf die noch immer niedrigere Produktivität im Osten und eine andere Wirtschaftsstruktur zurückgeführt werden kann. In Ballungsgebieten mit vielen Unternehmen aus dem High-Tech-Bereich, etwa in der Region Dresden, werden entsprechend höhere Gehälter gezahlt. Zum Teil werden die insgesamt niedrigen Löhne durch die in großen Teilen Ostdeutschlands niedrigeren Lebenshaltungskosten wettgemacht.
Dennoch aber bedeuten niedrigere Vermögen und Gehälter, dass die Ostdeutschen weniger Rücklagen hätten und deshalb „sensibler für die aktuellen Krisen“ seien, so Schneider, zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt. Der Beauftragte betont aber, dass die Gehälter im Osten in den vergangenen Jahren deutlich stärker gestiegen sind als im Westen. Grund sei die Einführung und Erhöhung des Mindestlohns, die sich im ostdeutschen Niedriglohnsektor noch stärker bemerkbar gemacht habe.
Attraktiv für Investitionen
Auch die Einkünfte durch Unternehmensgewinne fallen im Osten geringer aus als im Westen. Zwar gibt es, gerechnet auf die Bevölkerung, mittlerweile annähernd gleich viele Unternehmen in Deutschland-Ost wie Deutschland-West; im Osten sind diese aber im Schnitt deutlich kleiner und weniger profitabel. Im Bericht wird das im Beitrag zweier Wirtschaftswissenschaftlerinnen als eine Folge der Privatisierung der DDR-Betriebe durch die Treuhandanstalt bezeichnet. Ein Großteil der produktivsten Unternehmen sei damals in westdeutsche Hand gelangt.
Dennoch: Für die Wirtschaft ist Ostdeutschland ein durchaus attraktiver Standort. Aktuell (Stand Ende September) gibt es laut Bericht mehr als 20 avisierte Großinvestitionen in Ostdeutschland mit einem geplanten Investitionsvolumen von insgesamt mehr als 50
Milliarden Euro, wobei hinter den Investitionsplänen des US-amerikanischen Chipherstellers Intel inzwischen ein großes Fragezeichen steht. Das Unternehmen TSMC plant zum Beispiel eine Großproduktion für die Herstellung von Halbleitern. Andere Projekte wie die grüne Stahlproduktion von ArcelorMittal stärken die Region in den Bereichen Mikroelektronik, Batteriezellen und Wasserstofftechnologie.