Die Konferenz zur Zukunft Europas verfolgt das Ziel, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken und sie zukunftsfähig zu machen oder wie es das Motto der französischen Ratspräsidentschaft ausdrückt: „une Europe plus souveraine“ zu schaffen.
Es ist gut, dass die europäischen Institutionen mit der Konferenz zur Zukunft Europas nach anfänglichen Schwierigkeiten einen Weg gefunden haben, sich dieser Herausforderung gemeinsam zu stellen und gesellschaftlichen Akteuren die Möglichkeit geben, sich hier aktiv einzubringen.
Die Europäische Union braucht neue Impulse
In der Vergangenheit sind Reformen auf europäischer Ebene meist nur in akuten Krisensituationen gelungen. Ein Beispiel dafür ist die Reform der Eurozone, die nach einem Integrationsschub in den Jahren 2010 bis 2015 während der Staatsschuldenkrise nahezu zum Stillstand gekommen ist. Und auch beim Thema Migration und Asyl sind während der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 Integrationsschritte auf europäischer Ebene erreicht worden, und nun geht es kaum mehr voran. Mehr Kontinuität im europäischen Reformprozess und eine breitere Akzeptanz in der Bevölkerung sind also dringend geboten, und die Konferenz zur Zukunft Europas kann hier sicherlich ihren Beitrag leisten.
Das ist umso wichtiger als wir in Europa aktuell vor großen Herausforderungen stehen. Die Auswirkungen der globalen Covid-19-Pandemie und ihre massiven sozioökonomischen Folgen, die zunehmenden internationalen Spannungen, der Klimawandel sowie steigender Populismus und Nationalismus fordern den europäischen Zusammenhalt heraus.
Eine starke Europäische Union ist auch zentral für die deutsche Industrie. Rund zwei Drittel der deutschen Warenex- und -importe gehen auf den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten zurück. Der Binnenmarkt ist das Fundament für Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland und Europa. Die Vollendung des Binnenmarkts gehört zu den Dauerbaustellen der Europäischen Union und muss entschieden fortgesetzt werden; das gilt insbesondere für den Digitalen Binnenmarkt und die Dienstleistungen. Zugleich ist der Zugang zum europäischen Markt ein entscheidender Faktor, um die Interessen der Europäischen Union, aber auch unsere Werte, weltweit zu verteidigen.
Die Verteidigung europäischer Werte gelingt nur gemeinsam
Nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern können wir Mitgestalter der Weltwirtschaft und Weltpolitik sein. Hierfür kommt es auf eine Beschleunigung der Entscheidungsfindung und ein einheitliches Auftreten in außenpolitischen Fragen an. Gemeint ist eine Außenpolitik, die die Einflussmöglichkeiten Europas auch zur Verteidigung seiner Werte und Interessen einsetzt. Ein erster wichtiger Reformschritt wäre es daher, das Prinzip der Einstimmigkeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. Dies würde die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union deutlich stärken.
Auch die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Vollendung der Banken- und der Kapitalmarktunion mit dem Ziel der institutionellen Stärkung des Euroraums sind vordringliche Reformvorhaben. Die Verbesserung der Regelwerke und der Krisenfestigkeit des Euroraums bleiben Kernaufgaben der Europäischen Union, bei denen noch viel zu tun bleibt. Neben der Anpassung der Regeln und der Entwicklung des Euroraums selbst kommt es auch auf die Stellung des Euros im internationalen Anlage- und Finanzierungsgeschäft an. Europas monetäre und finanzielle Unabhängigkeit muss weiter gefestigt werden. Dazu sollte auch die Vollendung des Finanzbinnenmarkts durch die Schaffung einer Bankenunion und die Vertiefung der Kapitalmarktunion beitragen.
Die EU steht vor großen und schwierigen Aufgaben
Die Bekämpfung des Klimawandels und der effizientere Umgang mit natürlichen Ressourcen sind inhaltliche Schwerpunkte der Konferenz zur Zukunft Europas. Die Europäische Union hat sich das Ziel gesetzt, im Jahre 2050 klimaneutral zu sein. Den Weg dorthin beschreibt die Strategie des europäischen Green Deal, der eine Vielzahl an Maßnahmen umfasst. Seine Umsetzung erfordert einen klugen Ordnungsrahmen und einen ganzheitlichen, in sich konsistenten EU-Instrumentenmix. Mit der Vorlage ihres Fit for 55-Pakets im Sommer 2021 hat die Europäische Kommission Weichenstellungen vorgenommen für zentrale Fragen wie die Reform des Emissionshandels, den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Wasserstoffwertschöpfungsketten sowie die Modernisierung des EU-Beihilferechts. Europas Zukunftsfähigkeit steht und fällt mit einer verlässlichen CO2-Bepreisung auf europäischer und globaler Ebene. Denn die Europäische Union kann den Klimawandel nicht allein aufhalten, es braucht internationale Nachahmer. Die werden jedoch nur zu einem ähnlich ambitionierten Vorgehen bereit sein, wenn unsere Industrie trotz Dekarbonisierung global wettbewerbsfähig bleibt. Wenn das gelingt, kann der europäische Green Deal zu einer echten Wachstumsstrategie werden.
Die Konferenz zur Zukunft Europas zielt darauf ab, die Legitimität der Europäischen Union zu stärken und mehr Teilhabe zu ermöglichen. Dafür ist eine effiziente und transparente Gesetzgebung eine wichtige Voraussetzung. Nur so kann die Europäische Union weiterhin weltweit als Standardsetzer agieren und ihre Akzeptanz erhöhen. Gesetzesvorschläge müssen durch evidenzbasierte Folgenabschätzungen unterstützt werden, und der Umsetzungsaufwand sollte verhältnismäßig sein.
Handlungsfähigkeit setzt effiziente Entscheidungsverfahren voraus
Heute sind interinstitutionelle Trilog-Verhandlungen die Norm im europäischen Gesetzgebungsprozess, obwohl ihnen dafür eine klare rechtliche Basis fehlt. Die europäischen Institutionen müssen einen neuen „Modus Operandi“ finden, um die vertraglich verankerten Prinzipien der Transparenz und der Teilhabe mit einem effizienten Gesetzgebungsprozesses in Einklang zu bringen. Grundsätzlich sollten Gesetzgebungsvorschläge das ordentliche Rechtssetzungsverfahren durchlaufen. Im Falle von Trilog-Verhandlungen sind neben den Daten ebenfalls die Verhandlungspositionen von Rat und Europäischem Parlament sowie die Tagesordnungen und Protokolle der einzelnen Verhandlungsrunden öffentlich zu machen. Mehr Transparenz und Effizienz im Gesetzgebungsprozess wären auch ein wirksames Mittel, um das Image der Europäischen Union als „Brüsseler Bürokratiemonster“ zu entkräften.
Ein besser integrierter Binnenmarkt, eine einheitlichere Außenpolitik, eine funktionstüchtige Wirtschafts- und Währungsunion, eine kluge und ausgewogene Klimapolitik und ein effizienterer und transparenter Entscheidungsprozess sind aus Sicht der deutschen Industrie wichtige Reformvorhaben, für die es einer gemeinsamen europäischen Anstrengung bedarf. Aber die Liste lässt sich noch verlängern. Der Ansatz der Konferenz zur Zukunft Europas wurde bewusst sehr breit gewählt. Viele weitere Themen werden diskutiert. Die Herausforderung wird am Ende darin bestehen, die Ergebnisse zu bündeln und einen Follow-up-Prozess zu ermöglichen. Es wird erneut von den drei europäischen Institutionen und ihrer Bereitschaft zur Einigung abhängen, ob die Ergebnisse der Konferenz einen positiven Einfluss auf die Zukunft der Europäischen Union nehmen können.